Ausstellungsdidaktik
Eine gern genutzte Didaktik in VR bezeichnen wir als Ausstellungsdidaktik. Diese können Sie sich vorstellen, wie eine virtuelle Galerie in der entweder Bilder/Gemälde oder Skulpturen/3D-Objekte ausgestellt werden. Mit einem virtuellen Avatar können Sie diese Galerie betreten und sich die Exponate ansehen.
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Diese Didaktik ist durchaus auch VR-spezifisch, weil man in der Regel im üblichen Hochschulkontext darauf verzichtet, Informationen in Form von Text alternativ als Skulptur abzubilden. Aber in den virtuellen Welten versucht man durchaus, ursprünglich schriftliche Informationen als Bilder oder Skulpturen in einer Galerie auszustellen, die wir dann als VR-Exponate bezeichnen. In dieser Didaktik wird außerdem bewusst mit Ästhetik gearbeitet – eine virtuelle Galerie mit VR-Exponaten sieht schöner aus als ein Zettel mit gedrucktem Text. Weil es schöner aussieht und optisch erfahrbar gemacht wird, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Studierende sich involviert fühlen. Die Didaktik ist dadurch limitiert, dass es nicht viel zu tun gibt, außer die Exponate zu erfahren.
Simulationsdidaktik:
In Lektion 1 wurde erwähnt, dass VR-Lernen eine scheinbar überproportional große Rolle in der Medizin spielt. Ein gutes Beispiel für eine Simulationsdidaktik ist das virtuelle Simulieren einer Operation am offenen Herzen. Das hat mehrere Vorteile, im Vergleich zu schriftlichen Informationen/Anleitungen. Die jungen Ärzt:innen können motorische Abläufe immer und immer wieder erproben und verinnerlichen.
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Dazu kommt, dass solche Übungen ohne Risiken durchgeführt werden können – ähnliches gilt für Arbeitsabläufe aus der Automotiv-Branche. Auch hier lohnt es sich motorisch aufwendige Arbeitsabläufe in VR zu trainieren. Das muss nicht nur Hard-Skills betreffen – auch Soft-Skills lassen sich in VR gut eine Simulationsdidaktik trainieren. Generell ist der Zweck des Trainierens innerhalb dieser Didaktik verstärkt adressiert. Es gibt ein Verhalten, einen Bewegungsablauf oder einen Skill der angestrebt wird – der als richtigangesehen wird. Durch die Simulation dieses spezifischen Ablaufs kommen die Lernenden dem angestrebten Zustand immer näher (Beispiel: Präsentationsweise wird schrittweise verbessert). Erwähnenswert ist bei dieser Didaktik, dass sie das Potenzial der performativen Arbeit ausschöpft. Die Lernenden müssen, um in der Simulation erfolgreich abzuschneiden häufig auch körperliche Arbeit leisten. Die performative Arbeit an einzustudierenden Bewegungsabläufen bezeichnen wir als performativ-praktisch.
Szenariodidaktik/Konfrontationsdidaktik:
In der Lektion 2 wurde im Rahmen der persuasiven Lehre das Beispiel der Papierkonsum-Studie genannt. Hier haben die Probanden, die in VR einen Baum gefällt haben, im Anschluss einen geringen Papierkonsum nachgewiesen. Die Probanden wurden in das Szenario befördert, einen Baum fällen zu müssen (auch performativ) und haben dadurch ihre Einstellung gegenüber des Papierkonsums geändert. Diese Didaktik ist zu vergleichen mit der Ausstellungsdidaktik mit dem markanten Unterschied, dass wir nicht in einer Galerie stehen und auf ein Exponat blicken, sondern wir stehen im Exponat drin. Das Exponat ist in dem Fall ein ganzes Szenario, mit einer Geräuschkulisse, einem Plot und einer Umgebung.
Eine Untergattung der Szenariodidaktik ist die Konfrontationsdidaktik. Stellen Sie sich vor, Sie stehen in VR in einem brennenden Wald, das lodernde Feuer ist sichtbar und irgendwie auch spürbar. Das Knistern vom Feuer hören Sie sehr nah an Ihrem Ohr, sodass Sie recht überwältigt von diesem Szenario sind und danach erst einmal durchatmen möchten.
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Gerade dieses Beispiel, ist ein gern genannter Vorschlag, wenn es um Konfrontationsdidaktik im Rahmen des Klimawandels geht. Die Überlegung wäre in diesem Fall wie folgt: Studierende wissen gegebenenfalls, dass ein Klimawandel im Gange ist. Die Auswirkungen die anderswo auf dieser Welt gravierend und bedrohlich sind, sind im privaten gegebenenfalls Umfeld kaum spürbar – es gibt also keine emotionale Verbundenheit/Betroffenheit zu dem Klimawandel. Über eine VR-Konfrontationsdidaktik wie eben mit dem Waldbrand geschildert mit dem Zusatz „Das passiert, wenn Sie jetzt nicht handeln“ stellt eine direkte Betroffenheit her und verknüpft die gemachte Erfahrung mit einer Emotion – gegebenenfalls auch eine Emotion wie Angst oder Furcht. Diese Emotionen könnten im Anschluss aber dazu führen, dass das Thema Klimawandel eine hohe Relevanz einnimmt. Ob eine VR-Konfrontationsdidaktik mit dem Ziel der Erzeugung einer Angst, ein ethisch einwandfreies VR-Lernformat darstellt darf und sollte diskutiert werden – Nichtsdestotrotz ist dieser Ansatz ein Vorschlag, der von vielen gefordert und vorgeschlagen wird. Derartige Szenario- oder Konfrontationsdidaktiken sind VR-spezifisch und können in dieser Art und Weise nicht im realen Leben dargestellt werden.
Die bisherigen Ansätze haben eines gemeinsam: Sie bilden ein Verständnis oder eine Weltanschauung virtuell ab. Die Exponate der Ausstellungsdidaktik haben die Lehrenden entwickelt und modelliert; Die Simulationen der Simulationsdidaktik haben, durch Experten als „richtig“ eingestufte, Abläufe zum Gegenstand; Die Szenario- und Konfrontationsdidaktiken zeigen ein Szenario, das von den Lehrenden/Experten entweder als besonders wünschenswert oder als besonders unerwünscht erzählt wird.
Das was in diesen VR-Didaktiken gezeigt und erfahrbar gemacht wird, musste durch Entwickler:innen, Lehrende oder Expert:innen vorgedacht worden sein. Die Möglichkeiten dieser virtuellen Welten sind auf das limitiert, was sich die Ersteller:innen dieser Welten im Vorhinein überlegt haben. Selbst die Interaktionsmöglichkeiten mit diesen virtuellen Welten sind auf das reduziert, was die Entwickler:innen programmiert haben. Das Lernformat steht insofern
über den Lernenden. Der Lernende kann und
muss es so nutzen, wie es vorgesehen ist. Analog zu Reinfelds Ausführungen hieße das so etwas wie ein
automatisches oder
unbewusstes Absolvieren dieser VR-Lernformate (2023).
Um dies zu umgehen, soll eine weitere VR-Didaktik vorgeschlagen werden.
Immergenzdidaktik
Die Wortschöpfung Immergenz setzt sich aus den Begriffen Immersion und Emergenz zusammen. Immersion wurde in Kapitel 7 Lektion 1 als der Prozess des Eintauchens definiert. Emergenz bezeichnet das Herauskommen oder auch Emporsteigen von neuen Gebilden. Das heißt es wird in ein Thema eingetaucht: Wir schauen uns das Thema nicht an; Wir gehen in das Thema hinein; Wir versinken in ein Thema – und jetzt der prägnante Zusatz: Innerhalb dieses Tauchgangs steigt das Neue mit uns wieder hinauf. Diese Didaktik zählt dabei auch insbesondere auf die performative Arbeit ab. Angenommen, das Lernformat ist wie eine virtuelle Aufstellungsarbeit und es gibt in diesem Lernformat verschiedene dreidimensionale Objekte oder Figuren. Diese können die Lernenden anfassen, in die Hand nehmen, größer und kleiner ziehen, die Objekte können in unterschiedlichen Konstellationen zueinander angeordnet werden. Das Lernthema wird individuell entworfen. Dieses Arbeiten bezeichnen wir als performativ-schöpferisch. Hierdurch wird auch klar: Es gibt hinsichtlich eines Lernresultats keinen erwünschten Zustand mehr. Die jeweils individuellen Schöpfungen, welche aus dem Lernformat resultieren, können und dürfen voneinander abweichen. Dies trägt auch dem ethischen Vorwurf einer persuasiven Lehre Rechnung und unterstützt den gewünschten emanzipativen Charakter einer gelungenen BNE.
Ein Vorwurf dieses Vorgehens könnte sein, dass die Lernenden eines solchen performativ-schöpferischen Immergenzformats ja auch wieder auf die Funktionen begrenzt sind, die die Entwickler:innen programmiert haben – und dieser Vorwurf würde zurecht angeführt werden. Völlig frei können die Nutzer:innen dieser VR-Lernformate vermutlich niemals sein.
Die Möglichkeiten der VR-Technologie sind vielfältig aber sicherlich auch nicht unendlich.
Das schadet der Immergenzdidaktik allerdings nur bedingt, weil sich erstens alle Didaktiken diesem Vorwurf beugen müssen und zweitens birgt die Immergenzdidaktik das größte Potenzial für eine technisch-reflexive Nutzung. Was verstehen wir unter einer technisch-reflexiven Nutzung?
Die technisch-reflexive Nutzung ist so etwas wie die Überlistung von vorgebenden Handlungsmöglichkeiten durch eine erfolgreiche Reflektion/Auslotung der Handlungsmöglichkeiten. An dieser Stelle soll folgendes Beispiel gegeben werden:
Sie kennen vielleicht Lego – den Klemmbaustein. Wenn Sie Lego gekauft haben, wissen Sie vielleicht, dass man sich in der Regel ein ganzes Set kauft, beispielsweise ein Schiff, ein Schloss oder eine Polizeistation. Dann gibt es eine Anleitung, nach welcher man die Klemmbausteine aufeinander steckt, sodass das gewünschte Resultat entsteht. Wenn man sich beispielsweise der Anleitung widersetzt und einfach etwas völlig anderes aus den Legosteinen baut, dann ist das die erste Stufe einer technisch-reflexiven Nutzung, weil man bereits die eigentlich vorgesehen Grenzen der Nutzung überwunden hat. Aus einer vorgegebenen Struktur ist insofern etwas neues emergiert (Emergenz). Nicht jede:r ist im Stande diese Grenze zu überwinden. Man muss eine gewisse Übung mit der Legobaustein-Kunst mitbringen, um zu wissen, was noch alles möglich wäre und wie man die Legosteine auch auf eine andere Weise zusammenstecken könnte. Schließlich ist es nicht verboten, die Legosteine anders zusammenzusetzen als in der Anleitung beschrieben. Nur ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich Neulinge der Legowelt nah an der Anleitung orientieren.
Je geübter Sie mit den Legobausteinen sind, desto mehr Kombinationsmöglichkeiten und Konstellationen erkennen in der vorgegebenen Menge an Bausteinen. Allerdings haben die Erfinder:innen von Lego auch eine gewisse Vorstellung davon, wie man diese Bausteine überhaupt aufeinander stecken darf. In dem Bild erkennen Sie die sog. Illegale Legotechnik. In diesem Bild ist die zweite Überschreitung der Grenze an Möglichkeiten überwunden worden. Hier wurde nicht nur möglicherweise die Anleitung ignoriert, sondern auch die Gesetzmäßigkeiten des Legosystems. So entsteht eine völlig neue Art der Technik des Zusammenklemmens von Legobausteinen, die die Entwickler:innen so nicht vorgesehen hatten – so wurden die Noppen der Klemmbausteine eigentlich nicht konzipiert. Das ist ein gutes Beispiel für eine technisch-reflexive Nutzung von vorgegeben Möglichkeiten.
Was bedeutet also das Legobeispiel mit den beiden Grenzüberschreitungen für die Immergenzdidaktik? Man könnte behaupten, dass eine erste Grenzüberschreitung bereits durch das Grundgerüst der Immergenzdidaktik gegeben ist. Während die anderen Didaktiken in gewisser Weise eine Anleitung darstellen (So ist die Welt; So funktioniert der Bewegungsablauf; Das passiert, wenn du nichts unternimmst), so ist die Immergenzdidaktik offen für individuelle Lösungsansätze – Sie arbeiten performativ-schöpferisch mit Ihrem Thema. Auf das Legobeispiel übertragen, benutzen Sie die Legosteine also bereits ohne Anleitung. Wenn Sie es jetzt schaffen würden, die technischen Möglichkeiten des VR-Raums auszuloten, dann werden Sie wiederum neue Möglichkeiten finden (neue Techniken werden emergieren). Beispielsweise merken Sie, dass Sie mit dem Controller Gegenstände größer und kleiner ziehen können. Sie loten diese Funktion aus und merken, dass Sie den Gegenstand derart riesig gezogen haben, dass Sie auf einmal selbst in dem Gegenstand drinstehen – Der Gegenstand sieht von innen ganz anders aus, denn er wurde nie modelliert, um von innen betrachtet zu werden. Sie sehen: Es öffnen sich neue Blickwinkel und Möglichkeiten. So entsteht das Neue.
In der abschließenden Lektion haben Sie einen Überblick über VR-spezifische Didaktiken erhalten. Diese können Sie jeweils hinsichtlich ihrer performativen Anteile einordnen. Auch können Sie einordnen, welche Didaktiken einen direktiven Charakter haben und welche einen ermöglichenden Charakter besitzen. Zuletzt haben Sie die Immergenzdidaktik kennengelernt und von der technisch-reflexiven Nutzungsweise erfahren.