Kurs: Systemdenken und Nachhaltigkeit in Virtual Reality | OnCourse UB

  • Lektion 2

    Der Vorteil von performativen VR-Lernerfahrungen. Vorsicht, persuasive Lehre (?)

    • Lern-/Erkundungsziel von Lektion 2:
      In dieser Lektion erfahren Sie, worum es sich bei persuasiver und performativer Lehre in VR handelt. Sie können anschließend die Vor- und Nachteile einer solchen Lehre gegenüberstellen und das Potenzial sowie die Risiken einschätzen.


      Virtuelle Realität, Vr, Vr-Objektive

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    • Das Erstellen von VR-Lernformaten ist mit Aufwand verknüpft. Allein die Lernformate in der realen Welt bedürfen einer aufwendigen Konzipierung und in VR kommt noch einiges hinzu: Das gestalten von virtuellen 3D-Welten. Die echte Welt ist schon da – die virtuelle Welt muss erst noch geschaffen werden. Anders ausgedrückt: Wenn wir die VR-Brille aufsetzen, passiert erst einmal gar nichts. Sämtliche Erfahrungen müssen vorgedacht, konzipiert, umgesetzt, modelliert und programmiert werden. Nicht zuletzt aufgrund dieses erhöhten Aufwands müssen sich VR-Lernformate immer folgende Frage gefallen lassen: „Warum muss das eigentlich in VR sein? Können wir das nicht einfach in der echten Welt durchführen?“ – diese Frage ist wichtig und sollte immer gestellt werden. Ähnlich verhält es sich mit der Fragestellung: „Was ist der konkrete Vorteil davon, XY in VR durchzuführen“. 

      Die Nutzung der VR-Technologie sollte nie ein Selbstzweck sein, sondern im besten Fall immer einen konkreten Mehrwert bewirken. 


      Um den vorangegangen Satz einzuordnen: Der Anspruch, die VR-Technologie nur dann zu nutzen, wenn sie einen wirklichen Vorteil mit sich bringt, ist schwer zu erfüllen. Einerseits kann nicht per se von einem Vorteil durch das VR-Lernen im Vergleich zum normalen Lernen ausgegangen werden und andererseits ist es sehr naheliegend und attraktiv, die VR-Technologie als Selbstzweck zu nutzen. Gerade weil die VR-Technologie popkulturell aufgeladen ist, hat sie eine anziehende Wirkung auf Lernende und Lehrende. Außerdem ist es auch längst noch nicht so, dass ein Großteil der Studierenden eine VR-Brille zu Hause hätte – man hat vielleicht mal davon gehört, man hat es aber noch nie ausprobieren können. Die etwaige Idee von Lehrenden, einen für Studierende „langweiligen“ oder „trockenen“ Lernstoff in VR darzustellen ist aus „Marketing-Sicht“ nicht abwegig: Die meisten Studierenden, werden durch den Einsatz einer neuen aufregenden Technologie ein gewisses Involvement zeigen, welches sonst nicht in der Form zu erkennen wäre. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass sie dadurch mehr oder besser lernen.

    • Vorteile von VR-Lernformaten

      Was ist nun also der konkrete Vorteil, den VR-Lernformate gegenüber den herkömmlichen Lernformaten des realen Lebens mit sich bringen? Es gibt einige naheliegende Vermutungen - nur wenige davon sind empirisch gesichert. Das heißt, wer in der heutigen Zeit mit innovativen Lehrformaten vorrangeht, hat einen gewissen Pionierstatus, welcher in vielen Fällen gezwungenermaßen eine gewisse Naivität mit sich bringt. Aber wie sagt der Soziologe Luhmann so schön? 

      „[…] wie anders als naiv soll man anfangen?“ (Luhmann, 2023)

      Ein Vorteil, den VR-Welten gegenüber der realen Welt haben ist, dass sie frei gestaltbar sind. Die virtuellen Welten könnten auch reale Orte abbilden, die wir vielleicht sonst nicht ohne Weiteres in der realen Welt besuchen könnten.
    • Sie müssen aber auch keinen realen Ort imitieren – sie können genauso gut frei erfunden sein. Wenn wir wieder den Vorteilsgedanken aufgreifen, dann stellen wir uns am besten folgende bewährte Frage: „Welchen Vorteil hat es die reale Welt in VR nachzubilden, warum nutzen wir nicht einfach gleich die reale Welt?“. Richtig, manche Orte dieser Welt werden wir vielleicht niemals persönlich besuchen können – hier ist die Abbildung realer Orte in VR tatsächlich von Vorteil. Wenn wir uns beispielsweise die Frage stellen: „Welchen Vorteil hat es den Uni-Hörsaal in VR nachzubilden, warum setzen wir uns nicht in den echten Hörsaal?“ Dann wird es schon schwieriger den Vorteil zu erkennen.
    • Es soll nicht ausgeschlossen werden, dass auch das in gewissen Situationen seinen Vorteil haben kann, allerdings stellen Sie vielleicht auch fest: Wir rutschen doch schneller in den Modus „VR als Selbstzweck“ als gedacht. Wenn wir in VR allerdings neue Welten erschaffen, die noch niemand gesehen hat, dann hat es den Vorteil, dass es neuartig ist und der Besuch dieser neuen Welten ist für jede:n eine neue Erfahrung.
    • Im Folgenden finden Sie einen Videoclip, in dem es gestalterischen Potenziale von VR-Lernszenarien geht:










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      Performative Arbeit, persuasive Lehre und Soft Skills

      Das Ausführen von Gesten und ähnlichen Bewegungen, während wir in den virtuellen Welten verweilen, bezeichnen wir als performative Arbeit. Insofern also eine Arbeit, die körperliches Handeln erfordert. Ein Beispiel: das Anklicken eines Buttons am Computer. Der Mauszeiger ist noch nicht auf den richtigen Button gerichtet also führen wir eine minimale Handbewegung auf unserer Computermaus aus und der Mauszeiger schwebt über dem richtigen Button. Durch einen sachten Druck auf der Maustaste haben wir den Button geklickt. 

      In VR stehen wir in einem Raum und der Button ist zwei Meter entfernt. Wir müssen hingehen (tatsächlich gehen) und dann den Button tatsächlich drücken. Wenn der Button niedrig platziert ist, müssen wir uns sogar noch dabei bücken – wir sind körperlich mehr gefordert, um Dinge zu bewirken, insofern also auch mehr „involviert“. Das liegt unter anderem daran, dass es weniger „bewegungsreduzierende“ Schnittstellen in VR gibt.

      Wie in Lektion 1 beschrieben, gibt es Lernfelder und Disziplinen, in denen ein VR-Lernformat mal mehr und mal weniger Sinn macht. Außerdem wurde in Lektion 1 in Hard- und Soft-Skills unterschieden und beobachtet, dass der Einsatz von VR-Technologien im Hard-Skill-Bereich zunächst naheliegender scheint. Der hier vorliegende Kontext ist das nachhaltige Verhalten, welches sich prinzipiell erstmal im Soft-Skill-Bereich verorten lässt. Vergleichen wir das nachhaltige Verhalten mit dem in Lektion 1 gegebenen Beispiel für Soft-Skills, dem Präsentieren von Vorträgen, so wird klar: Nachhaltiges Verhalten zieht eine gesellschaftliche Intention mit sich. Das Wissen zu nachhaltigem Verhalten soll nicht gelehrt und in einer Klausur abgefragt werden, sondern es soll sich niederschlagen auf das anschließende Verhalten der Studierenden – zumindest ist dies der übliche Wunsch einer solchen Lehre. Um das vorwegzunehmen: auf die ethische Fragestellung wird gleich noch eingegangen. Gehen wir zunächst davon aus, dass es in Ordnung ist, Studierende über die Lehre zu einem nachhaltigen Handeln zu bewegen. Die Lehre, die Studierende von etwas (einem nachhaltigen Handeln) überzeugen möchte, bezeichnen wir als persuasive Lehre.

      Sobieraj & Krämer stellen fest, dass die gemachten Erfahrungen in VR eine persuasive Wirkung mit sich bringen (2016). Wir formulieren daraufhin folgende These: Es ist ein Vorteil von VR-Lehre, dass sie überzeugender ist als herkömmliche Lehre – und deshalb eignen sich VR-Lehrformate insbesondere für persuasive Lehre (und somit auch für Nachhaltigkeitsthemen). In einer Studie wurde der Papierkonsum von Probanden untersucht. Diese Probanden wurden in drei Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe las einen Text über Umweltschutz (Papier), die andere sahen sich ein Video über Umweltschutz an und die letzte Gruppe musste in VR einen Baum fällen (performativ). Das Ergebnis zeigte, dass die letzte Gruppe im Anschluss 20% weniger Papier konsumierte (Ahn et al., 2016). Die gemachte VR-Erfahrung entfachte eine persuasive Wirkung und hielt daraufhin die Probanden davon ab, mehr Papier als nötig zu konsumieren. Das ist ein eindrucksvolles Beispiel, anhand dessen wir sagen können: „Hier hatte die VR-Erfahrung einen Vorteil“ – und es geht auch nur in VR, weil das Fällen eines realen Baums nicht vereinbar mit dem zugrundeliegenden Lernziel ist.

      Jetzt wo wir annehmen, dass VR-Lernformate sich insbesondere für persuasive Lehre eignen, stellt sich zurecht die Frage, ob das ethisch vertretbar ist, Überzeugungsarbeit in VR zu leisten und dies sogar in den vielen Fällen über das Triggern von Emotionen zu erreichen (siehe das Baumfällen Beispiel). Wer den Diskurs rund um die Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) studiert, stellt fest, dass es nicht darum geht, eine direktive Anweisung zu geben, gemäß: „Benimm dich gefälligst nachhaltig!“. Man ist sich weitgehend darüber einig, dass die BNE einen emanzipativen Charakter haben soll. Das heißt, die Lernenden erhalten Wissen, Kompetenzen oder Einstellungen, die danach eine selbstständige Entscheidung für oder gegen etwas zulassen. Wie lässt sich also die Vorstellung einer emanzipativen BNE mit einer persuasiven Lehre vereinbaren?  

      Die vereinfachte Antwort darauf lautet: 

      Da BNE und persuasive Lehre in ihrem Grundansatz eine Intention verfolgen (jemand soll von etwas überzeugt werden), kann die persuasive Lehre genauso wie die BNE auch einen emanzipativen Charakter beibehalten. In diesem Denkmuster versteht die studierende Person, dass Lehre für Nachhaltigkeit eine gewisse Intention verfolgt, nimmt dies zur Kenntnis und durchläuft aber dennoch Lehrformate, die nicht direktiv, sondern emanzipativ wirken und kann schließlich selbstständig entscheiden, inwiefern das Gelernte in das anschließende Verhalten aufgenommen wird. Im besten Fall wird dieses Vorgehen eingebettet in einer VR-Didaktik die einen Rahmen so eröffnet, dass die Studierenden in VR selbständig sowie individuell mit, an und in ihrem Thema arbeiten.

      In dieser Lektion haben wir also mehrere Vorteile kennengelernt, welche die virtuellen Welten gegenüber der realen Welt mitbringen: visuelles Potenzial, physikalische Gesetzte aushebeln, performativ im Thema arbeiten, persuasive Wirkung etc.. Um diesbezüglich mit der „Vorteilsfrage“ abzuschließen, soll eine andere Perspektive aufgezeigt werden. „Was ist die Bedeutung von VR für das Lernen?“ ist die zentrale Fragestellung dieses Kapitels. Die Bedeutung von VR für das Lernen muss nicht zwingend in einem kausalen Zusammenhang formuliert werden, wie etwa beispielsweise: Das Lernen mit VR ist 20% effektiver als das Lernen ohne VR (oder andersherum). Die Bedeutung von VR für das Lernen ist ganz grundsätzlich erstmal folgende: Wir haben mit der VR-Technologie die Möglichkeit ganz anders zu lernen als vorher. Die virtuellen Welten können jegliche Gestalt annehmen, wir haben beinahe unendlich viele Möglichkeiten Informationen visuell darstellen. Darüber hinaus lassen sich VR-Geschichten so erzählen, dass sie uns emotional berühren. Jedes erdenkliche Szenario ließe sich sicherlich mit etwas Aufwand in VR simulieren, sodass wir Dinge sehen können, die nie zuvor gesehen wurden. Wenn also nun weiterhin zurecht die Frage gestellt wird: „Was ist der Vorteil von VR-Lehre in Kontext XY“ dann können wir vielleicht nicht pauschal behaupten, dass VR-Lehre besser oder schlechter ist – aber die Lehre in VR hat das große Potenzial ganz und gar anders zu sein.