Kurs: Systemdenken und Nachhaltigkeit in Virtual Reality | OnCourse UB

  • Lektion 4

    Mein virtuelles (immersives) Ich - Exkurs: Proteus Effekt


    • Lern-/Erkundungsziel von Lektion 3:

      In dieser Lektion unternehmen wir einen Exkurs zur virtuellen Identitätsbildung. Sie lernen den Proteus Effekt und weitere theoretische Konstrukte kennen und können anschließend einschätzen, inwiefern dieser für mögliche neue Lernprozesse hilfreich sein könnte.


    • Wir setzen eine VR-Brille auf und tauchen kurz darauf in die virtuelle Welt ein. Anschließend befinden wir uns in den verschiedensten Situationen – je nachdem, welches Spiel/App wir betreten bzw. welches Menü wir anwählen. In Virtual Reality geschieht vieles aus der Ego-Perspektive - dem sog. POV (Point of View). Folglich sind wir in einem virtuellen Körper/Avatar, der das Geschehen aus eigenen Augen (zumindest wird dies so wahrgenommen) betrachtet. Fragen, die zunächst trivial klingen, häufig aber gar nicht gestellt werden, sind zum Beispiel:


      @generiert mithilfe der Midjourney-KI

      Eine prägnante Dynamik hierbei ist, dass wir ähnlich wie im echten Leben nicht diejenigen sind, die uns die meiste Zeit vollständig betrachten können. Die Egoperspektive bringt mit sich, dass man sich weitgehend nicht selbst betrachten kann – es sei denn wir schauen in den Spiegel. Andere Avatare in der virtuellen Welt hingegen sehen unser äußeres virtuelles Erscheinungsbild, genauso wie wir auch deren Avatare betrachten und interpretieren können. Eine weitere spannende Frage lautet dann: Haben wir ein anderes Ich-Gefühl, sobald wir von der echten Realität in die virtuelle Realität hineinschlüpfen?


    • Avatar:


      @generiert mithilfe der Midjourney-KI

       Der virtuelle AvatarDie naheliegendste Abhängigkeit dürfte wohl der virtuelle Avatar sein, der uns in der virtuellen Welt verkörpert. In den meisten Fällen werden das unterschiedliche Avatare sein – je nachdem in welcher VR-Anwendung wir uns befinden. Wenn Sie aufgefordert werden, sich einen virtuellen Avatar zu erstellen und dabei völlig frei in der Ausgestaltung sind, könnten Sie den Impuls haben, sich zunächst recht nah an ihrem tatsächlichen Äußerem zu orientieren. Interessanterweise haben viele Personen in solchen Fällen das unterschwellige Gefühl, sie müssten ihren virtuellen Avatar möglichst detailgetreu gemäß ihrem tatsächlichen Aussehen nachbilden. Das macht Sinn, wenn wir beachten, dass wir uns als Person nicht ändern, wenn wir die VR-Brille aufsetzen. Um im virtuellen Raum als die Person erkannt zu werden, die man ist, werden die wahrgenommene Persönlichkeit und das wahrgenommene Optische eine wichtige Rolle spielen – was sonst haben andere virtuelle Avatare an Informationen über uns im virtuellen Raum? Naheliegend wäre also auch, dass wir uns in den virtuellen Welten so verhalten, wie wir eben persönlich gestrickt sind. In diesem Denkmuster würden wir versuchen uns in den virtuellen Welten analog zu unserem Ich der realen Welt zu verhalten. Die reale Identität wird also mit in die virtuelle Welt hineingenommen. Was ist aber, wenn wir in den virtuellen Welten eine andere Identität annehmen könnten?
    • Der Proteus-Effekt:

      In der griechischen Mythologie wird der Meeresgott Proteus (zu dt. „der Erste“) beschrieben. Proteus besaß als anthropomorphisches Symbol des Meeres die üblich zugeschriebenen Merkmale der aquatischen Götter: ein weises Alter, prophetisches Wissen sowie die Fähigkeit der spontanen Gestaltenwandlung


      @generiert mithilfe der Midjourney-KI

    • Der Aspekt der Gestaltenwandlung ist im Zusammenhang mit dem Eintauchen in virtuelle Welten deshalb besonders relevant, weil wir unser Äußeres in den meisten Fällen selbst gestalten können. So gesehen haben wir in den virtuellen Welten auch die Fähigkeit der Gestaltenwandlung. Was das für unsere virtuelle Identität bedeutet, wollen wir im Folgenden genauer betrachten.

      Die Erstellung des Avatars ist in den meisten VR-Anwendungen äußert umfangreich. Dabei können ganz wesentliche Merkmale frei bestimmt werden: Geschlecht, Ethnie, Körpergröße, Körperform und sogar monströse Fabelwesen sind völlig legitim in den virtuellen Welten. In der Wissenschaft wurde sich diesem Thema bereits zugewandt und tatsächlich unter dem Proteus-Effekt diskutiert (Yee, Bailenson & Ducheneaut, 2009). Genauer gesagt geht es darum, wie sich Menschen mit unterschiedlich ausgestalteten virtuellen Avataren in den virtuellen Interaktionen verhalten. Eine beispielhafte Vermutung könnte wie folgt aussehen:

      Eine Person erstellt sich in der virtuellen Welt einen monströsen und bedrohlich anmutenden Avatar mit 3 Meter Körpergröße und scheint sowohl in der virtuellen Realität wie aber auch unmittelbar nach ihrem Auftauchen aus der virtuellen Welt ein selbstbewussteres Verhalten an den Tag zu legen. 

      Der Zusammenhang zwischen dem Äußeren eines Individuums und dessen Verhalten könnte in den virtuellen Welten enger verwoben sein als im realen Leben – dies beteuern zumindest einige Studien. Insofern wird ein virtueller Avatar in der virtuellen Welt in der Interaktion mit anderen virtuellen Avataren neu sozialisiert, interpretiert und eingestuft. Das lässt die These zu, dass wir nicht nur unseren virtuellen Avatar frei definieren können, sondern auch unsere damit verknüpfte virtuelle Identität selbst konstruieren können – und zwar losgelöster und freier als dies im realen Leben der Fall ist.

       

      Aber was genau bedeutet es, sich eine Identität in den virtuellen Welten zu konstruieren? Wie auch im zuvor genannten Beispiel (wir nehmen die Identität aus dem echten Leben mit in die virtuelle Welt) ist die virtuelle Persönlichkeit eng mit dem virtuellen Aussehen gekoppelt. Das heißt unsere wahrgenommene virtuelle Persönlichkeit (Gesprochenes, Gestik sowie sonstige Handlungen in VR) muss nicht mit unserer eigentlichen (realen) Persönlichkeit zusammenhängen, sondern sollte möglichst mit dem virtuellen Avatar kongruent sein. Diese Dynamik ähnelt einem Rollenspiel. Die Rolle wäre der virtuelle Avatar, in welchem man bei Eintritt in die virtuelle Realität schlüpft. Wenn andere virtuelle Avatare den eigenen virtuellen Avatar erstmalig in VR antreffen, werden diese zunächst einmal das optische Erscheinungsbild interpretieren. Mit diesen Interpretationen werden wahrscheinlich erste Implikationen bezüglich des zu erwartenden Verhaltens in Gang gesetzt. Eine These könnte sein, dass wir uns im virtuellen Raum so verhalten, wie andere es gemäß unserem optischen Erscheinungsbild erwarten würden. Wie wäre das zu begründen?

       Eine mögliche Antwort... kann in der Rollenspiel-Literatur gefunden werden: Empirische Befunde aus diesem Bereich zeigen auf, dass das temporäre Einnehmen von Rollen die anschließenden kurz- und mittelfristigen Verhaltensweisen und die Einstellung verändern kann. Studien zu den Themen selbsterfüllende Prophezeiungen und Bestätigung von erwartetem Verhalten zeigen ähnliche Resultate. Recht verständlich ist eventuell erst einmal, dass Menschen sich innerhalb eines Rollenspiels gemäß ihrer Rolle verhalten – das ist nun einmal der Sinn eines gerahmten Rollenspiels. In den meisten Fällen wird das Verhalten innerhalb eines Rollenspiels auch nicht der dahinterliegenden Person zugeschrieben, sondern der gespielten Rolle. Wie kommt es aber dazu, dass Rollenspiele scheinbar einen Effekt auf das darauffolgende Verhalten der realen Person haben, welche zuvor in andere Rollen geschlüpft ist?
    • Um das zu verstehen, kann eine weitere Theorie hilfreich sein:

      Die Selbstwahrnehmungs-Theorie

      (im englischen Original: Self-Perception Theory nach Bem, 1972).

      Die Selbstwahrnehmungs-Theorie beschäftigt sich grundsätzlich mit der Veränderung von Verhaltensweisen einer Person und dessen Einstellung. Der markante Zusammenhang ist, dass Menschen ihr eigenes Verhalten aus der Brille einer dritten Person beobachten und sich selbst gemäß dieser Beobachtung eine entsprechende Einstellung zuschreiben (Bem, 1972). Mit diesem Denkmuster gesprochen gilt also nicht der üblichere Zusammenhang: „Ich habe eine Einstellung und verhalte mich gemäß dieser“, sondern: „Ich beobachte mein Verhalten und habe demnach diese Einstellung“. Um das einmal zu verdeutlichen, soll folgendes Beispiel betrachtet werden: 


      @generiert mithilfe der Midjourney-KI

      Valin führte im Jahre 1966 ein Experiment durch, in welchem die Probanden zehn Bilder von Personen hinsichtlich ihrer Attraktivität bewerten sollten. Währenddessen wurde im Hintergrund das Geräusch eines Herzschlages simuliert. Die Probanden dachten, es würde sich um ihre tatsächlichen Herzschläge handeln, wobei die Herzschläge nur simuliert und kontrolliert wurden. Bei fünf der Bilder wurde ein „abfallender“ Herzschlagrythmus abgespielt, während bei den anderen fünf Bildern eine deutliche Beschleunigung des Herzschlages simuliert wurde. Unter Annahme der allgemeinen Interpretation eines erhöhten Herzschlags vermuteten die Probanden, dass die Person auf dem Bild wohl attraktiv sein würde. Zumindest spiegelte sich das im Verhalten der Probanden wider, denn: Die Personen auf den Bildern bei denen ein erhöhter Herzschlag als Sound abgespielt wurde, wurden deutlich attraktiver bewertet (Valin, 1966). 


    • Übertragen auf die eben vorgestellte Selbstwahrnehmungs-Theorie bedeutet dies folgenden Zusammenhang: „Ich beobachte meinen erhöhten (gefakten) Herzschlag - also finde ich die Person auf dem Bild wohl attraktiv.“ Also wieder erst das (beobachtete) eigene Verhalten und danach die Zuschreibung eigener Attribute oder Einstellungen. So würden wir über unser Verhalten (zu erwartendes Verhalten auf Basis der Optik unseres virtuellen Avatars) unsere Einstellungen und Attribute konstruieren (virtuelle Identität).
      Wie lassen sich all diese Befunde auf den Proteus Effekt in Virtual Reality übertragen? In einem Experiment interagierten Probanden in VR mit anderen virtuellen Interaktionspartnern. Die Probanden besaßen unterschiedliche virtuelle Avatare – eine Gruppe erhielt Avatare mit überdurchschnittlich attraktiven Gesichtern, während die andere Gruppe Avatare mit durchschnittlich attraktiven Gesichtern erhielt. Die Probanden hatten außerdem die Möglichkeit sich während der virtuellen Interaktion auch selbst im Spiegel zu betrachten, um ihr Äußeres bewusst wahrzunehmen. Die unterschiedlich attraktiven Gesichter der Probanden wurden den virtuellen Interaktionspartnern allerdings nicht angezeigt, das heißt den Interaktionspartnern wurden sämtliche Probanden mit durchschnittlich attraktiven Gesichtern angezeigt. Dies sollte dafür sorgen, dass die Interaktionspartner die Probanden mit überdurchschnittlich attraktiven Avataren nicht anders behandeln als diejenigen mit durchschnittlich attraktiven Avataren. Das Ergebnis des Experiments zeigt, dass die Probanden mit attraktiveren Avataren deutlich zugewandter, selbstbewusster und offener mit den Interaktionspartnern in VR umgegangen sind als die Vergleichsgruppe (Yee & Bailenson, 2007).
    • Dieses Experiment unterstützt die These, dass wir über unsere virtuellen Avatare und unser virtuelles Verhalten unsere virtuelle Identität verändern können. Die Frage ist an dieser Stelle nur: Was passiert, wenn wir die VR-Brille absetzen? Geschieht mit dem Auftauchen aus der virtuellen Welt etwa direkt der Rollenwechsel zu unserem realen Ich mit all unseren Einstellungen und Attributen? Sind unsere reale Identität und unsere virtuelle Realität überhaupt so trennscharf voneinander?

      Auch wenn die Wissenschaft bisher keine eindeutige Antwort hierfür anbietet, so gilt die Selbstwahrnehmungs-Theorie aber insbesondere für das echte Leben. Wir erinnern uns: Menschen beobachten ihr eigenes Verhalten durch die Brille einer dritten Person und schreiben sich darauf basierend eigene Attribute und Einstellungen zu. Angenommen wir setzen die Brille ab, nachdem wir einige Zeit in unserem virtuellen Körper/Avatar verbracht haben. Was ist, wenn es eine Vermischung in der Selbstwahrnehmungs-Theorie gibt? Das heißt wir schreiben unserer realen Person im echten Leben Einstellungen und Attribute zu, die aber auf einer Beobachtung unseres virtuellen Verhaltens basieren? Dann würden wir Teile unserer virtuellen Identität mit in die echte Welt nehmen.
    • Zusammenfassung:

      Die Lektion hat aufgezeigt, dass der virtuelle Avatar im virtuellen Raum mehr Einfluss auf unser Verhalten hat als vielleicht vorher angenommen. Das birgt Risiken und Potenziale gleichermaßen. Es geht um weit mehr als nur die Erstellung eines virtuellen Abbildes unseres Selbst. Die Besonderheit an Virtual Reality ist unter anderem: Wir können selbst bestimmen, wer wir sind und wie wir sind. Klar ist auch: Wir müssen in Virtual Reality nicht dieselbe Identität annehmen, die wir im echten Leben mit uns führen. An dieser Stelle möchten wir Sie ermutigen, sich in VR neu zu erzählen, neu zu gestalten oder neu zu interpretieren:

      „Die Transformation entsteht durch eine Veränderung der Selbsterzählung (virtueller Avatar/Identität).“ -Georg Müller Christ