Der Aspekt der Gestaltenwandlung ist im Zusammenhang mit dem Eintauchen in virtuelle Welten deshalb besonders relevant, weil wir unser Äußeres in den meisten Fällen selbst gestalten können. So gesehen haben wir in den virtuellen Welten auch die Fähigkeit der Gestaltenwandlung. Was das für unsere virtuelle Identität bedeutet, wollen wir im Folgenden genauer betrachten.
Die Erstellung des Avatars ist in den meisten VR-Anwendungen äußert umfangreich. Dabei können ganz wesentliche Merkmale frei bestimmt werden: Geschlecht, Ethnie, Körpergröße, Körperform und sogar monströse Fabelwesen sind völlig legitim in den virtuellen Welten. In der Wissenschaft wurde sich diesem Thema bereits zugewandt und tatsächlich unter dem Proteus-Effekt diskutiert (Yee, Bailenson & Ducheneaut, 2009). Genauer gesagt geht es darum, wie sich Menschen mit unterschiedlich ausgestalteten virtuellen Avataren in den virtuellen Interaktionen verhalten. Eine beispielhafte Vermutung könnte wie folgt aussehen:
Eine Person erstellt sich in der virtuellen Welt einen monströsen und bedrohlich anmutenden Avatar mit 3 Meter Körpergröße und scheint sowohl in der virtuellen Realität wie aber auch unmittelbar nach ihrem Auftauchen aus der virtuellen Welt ein selbstbewussteres Verhalten an den Tag zu legen.
Der Zusammenhang zwischen dem Äußeren eines Individuums und dessen Verhalten könnte in den virtuellen Welten enger verwoben sein als im realen Leben – dies beteuern zumindest einige Studien. Insofern wird ein virtueller Avatar in der virtuellen Welt in der Interaktion mit anderen virtuellen Avataren neu sozialisiert, interpretiert und eingestuft. Das lässt die These zu, dass wir nicht nur unseren virtuellen Avatar frei definieren können, sondern auch unsere damit verknüpfte virtuelle Identität selbst konstruieren können – und zwar losgelöster und freier als dies im realen Leben der Fall ist.
Aber was genau bedeutet es, sich eine Identität in den virtuellen Welten zu konstruieren? Wie auch im zuvor genannten Beispiel (wir nehmen die Identität aus dem echten Leben mit in die virtuelle Welt) ist die virtuelle Persönlichkeit eng mit dem virtuellen Aussehen gekoppelt. Das heißt unsere wahrgenommene virtuelle Persönlichkeit (Gesprochenes, Gestik sowie sonstige Handlungen in VR) muss nicht mit unserer eigentlichen (realen) Persönlichkeit zusammenhängen, sondern sollte möglichst mit dem virtuellen Avatar kongruent sein. Diese Dynamik ähnelt einem Rollenspiel. Die Rolle wäre der virtuelle Avatar, in welchem man bei Eintritt in die virtuelle Realität schlüpft. Wenn andere virtuelle Avatare den eigenen virtuellen Avatar erstmalig in VR antreffen, werden diese zunächst einmal das optische Erscheinungsbild interpretieren. Mit diesen Interpretationen werden wahrscheinlich erste Implikationen bezüglich des zu erwartenden Verhaltens in Gang gesetzt. Eine These könnte sein, dass wir uns im virtuellen Raum so verhalten, wie andere es gemäß unserem optischen Erscheinungsbild erwarten würden. Wie wäre das zu begründen?
Eine mögliche Antwort...
kann in der Rollenspiel-Literatur gefunden werden: Empirische Befunde aus diesem Bereich zeigen auf, dass das temporäre Einnehmen von Rollen die anschließenden kurz- und mittelfristigen Verhaltensweisen und die Einstellung verändern kann. Studien zu den Themen selbsterfüllende Prophezeiungen und Bestätigung von erwartetem Verhalten zeigen ähnliche Resultate. Recht verständlich ist eventuell erst einmal, dass Menschen sich innerhalb eines Rollenspiels gemäß ihrer Rolle verhalten – das ist nun einmal der Sinn eines gerahmten Rollenspiels. In den meisten Fällen wird das Verhalten innerhalb eines Rollenspiels auch nicht der dahinterliegenden Person zugeschrieben, sondern der gespielten Rolle. Wie kommt es aber dazu, dass Rollenspiele scheinbar einen Effekt auf das darauffolgende Verhalten der realen Person haben, welche zuvor in andere Rollen geschlüpft ist?