Kurs: Systemdenken und Nachhaltigkeit in Virtual Reality | OnCourse UB

  • Lektion 1

    Desorientierung

    • Introvideo:
    • Im vorherigen Kapitel 3 wurde die Frage beleuchtet, warum nachhaltiges Handeln häufig so schwerfällt. Dabei standen die Rolle der Sustainable Development Goals (SDGs), die Diskrepanz zwischen Wissen und Verhalten (Knowledge-Behavior-Gap) sowie die Inner Development Goals (IDGs) im Mittelpunkt. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen widmet sich das Kapitel 4 nun der Transformativen Bildung für Nachhaltigkeit. In diesem Abschnitt wird untersucht, wie Bildungsräume transformative Prozesse fördern können, um nachhaltiges Denken und Handeln in der Gesellschaft zu verankern. Im Fokus steht dabei die Frage, wie wir als Kollektiv ins nachhaltige Handeln kommen. Gemäß dem Prinzip der reflexiven Responsibilisierung beginnt im Optimalfall ein gedanklicher Umordnungsprozess von Verantwortlichkeiten, der später in den VR-Interventionen weitergeführt werden soll. 

      In Bildungskontexten wird nicht nur Wissen vermittelt, sondern es können auch individuelle und kollektive Transformationshandlungen in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung ermöglicht werden. Befähigen Sie sich selbst, um als aktive Gestalter:innen von Veränderungen konkrete Schritte zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung einleiten zu können!

      Lektion 1: Desorientierung


      Die Gestaltung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse (insbesondere im Kontext der Nachhaltigen Entwicklung) erfordert den gezielten Einsatz unterschiedlicher Wissensformen. Um den komplexen Herausforderungen unserer Zeit wirksam zu begegnen, müssen Systemwissen, Zielwissen und Transformationswissen zusammengeführt und integriert werden.



    • @eigene Darstellung; in Anlehnung an Rotmans & Loorbach (2010)

      In diesem Kontext spielen Hochschulen eine zentrale Rolle als gesellschaftliche Reallabore für eine Nachhaltige Entwicklung. Sie sind nicht nur Orte des Lernens und der Wissensproduktion, sondern auch entscheidende Akteure bei der Ausbildung zukünftiger Entscheidungsträger:innen. Diese Verantwortung erfordert eine Ausrichtung von Forschung & Lehre auf eine transformative Wissenschaft, die z.B. den sozio-ökologischen Wandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft aktiv mitgestaltet. Im Sinne einer ‚Wissenschaft, die den Wandel schafft‘ (im Sinne von Mandy Singer-Brodowski), sollten Hochschulen nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch dazu befähigen, dieses Wissen in die Praxis umzusetzen und Transformationen in der Gesellschaft anzustoßen.

      Diese Perspektive wird jedoch auch kritisch diskutiert, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Freiheit von Forschung & Lehre. Aus einer objektivistischen Sichtweise wird die Ausrichtung der Wissenschaft auf transformative Ziele als potenzieller Eingriff in die wissenschaftliche Unabhängigkeit betrachtet. Eine zu starke Fokussierung auf normative Ziele könnte die Objektivität und Unparteilichkeit der Wissenschaft gefährden. Durch eine solche Ausrichtung könne im Extremfall die Freiheit der wissenschaftlichen Exploration dadurch eingeschränkt werden, dass bestimmte Forschungsrichtungen bevorzugt und andere vernachlässigt werden.

      Gleichwohl bleibt die Frage, ob das Wissenschaftssystem angesichts der drängenden globalen Herausforderungen nicht eine Verantwortung trägt, über die reine Wissensproduktion hinauszugehen und aktiv zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beizutragen. Eine transformative Wissenschaft, die bewusst auf gesellschaftliche Veränderungen abzielt, könnte somit als notwendige Weiterentwicklung verstanden werden, die dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung gerecht wird, ohne dabei die Grundprinzipien der wissenschaftlichen Freiheit zu vernachlässigen.



    • In aktuellen Bildungsprozessen liegt der Fokus häufig auf der Vermittlung von System- & Zielwissen. Diese beiden Wissensformen sind essenziell für das Verständnis der Funktionsweise komplexer Systeme sowie für die Entwicklung normativer Vorstellungen darüber, wie eine nachhaltige Zukunft aussehen sollte. Obwohl dieses Wissen eine wichtige Grundlage bildet, reicht es allein nicht aus, um Lernende wirklich auf die aktive Mitgestaltung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen vorzubereiten. Nachhaltigkeitsbildung sollte sich nicht darauf beschränken, theoretisches Wissen zu vermitteln; Sie als Lernende benötigen Gelegenheiten, eigene Selbsterfahrungen zur Gestaltung des Wandels durchzuführen. Solche Reflexionserfahrungen sind entscheidend, damit Sie ihren eigenen Beitrag zur sozial-ökologischen Transformation erkunden und reflektieren können. Es braucht eine lebendige Lern- & Teilhabekultur, die weit über die bloße Ansammlung von trägem Nachhaltigkeitswissen hinausgeht. Eine solche Kultur zielt darauf ab, Sie als Lernende nicht nur als passive Empfängerinnen & Empfänger von Wissen zu betrachten, sondern Sie als aktive Mitgestalter:innen des Wandels zu fördern. Daher wird Bildung (auch im Rahmen dieser Lehrveranstaltung) zu einem dynamischen Prozess, der die Entwicklung von Kompetenzen, Kreativität und Selbsterfahrung in den Vordergrund stellt.

      Um die globalen Herausforderungen der Gegenwart erfolgreich zu bewältigen, ist es entscheidend, dass Sie als Change Agents in konkreten Transformationsprozessen agieren können. Im Rahmen der Lehrveranstaltung sollen Sie dazu befähigt werden, sich eigenständig und wirkungsvoll in persönlich relevanten Kontexten zu engagieren. Dabei geht es uns nicht nur um die Vermittlung kognitiver Fähigkeiten, sondern auch um die Berücksichtigung motivationaler & emotionaler Beweggründe, die Ihr individuelles Handeln beeinflussen.

      Die VR-Learning-Journeys sollen einen ersten Schritt in Richtung einer Transformative Literacy machen, die Sie dazu befähigen soll, Informationen aus der Gesellschaft und den natürlichen Ökosystemen aufzunehmen, sie in ein umfassendes Verständnis über Systeme & Transformationspfade zu integrieren und darauf basierend eigene Handlungen zu gestalten. Letztendlich sollen Sie dazu ermächtigt werden, gesellschaftliche Verhältnisse & Systeme kritisch zu hinterfragen und im Sinne der Nachhaltigen Entwicklung neu zu gestalten. Dies schließt die Fähigkeit ein, gesellschaftliche Strukturen & Prozesse zu analysieren sowie kreative Lösungen für komplexe Probleme zu entwickeln.

       Es zeigt Menschen, die sich um ein symbolisches Dokument versammeln, das ein Gesellschaftsvertrag darstellt.

      @DALL-E


      BNE = Business as usual?

      Die Agenda 2030 stellt einen weitreichenden Rahmen für die internationale Gemeinschaft dar. Die SDGs adressieren viele drängende Herausforderungen unserer Zeit; darunter auch eine Vielzahl von Bildungsfragen. So umfasst das SDG 4 das Ziel, dass bis 2030 alle Lernenden das notwendige Wissen und die Fähigkeiten erwerben, um nachhaltige Entwicklung zu fördern.

      Auch wenn viele Bildungsangebote im Kontext der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) unterschiedliche Nachhaltigkeitsaspekte in ihren ökologischen, ökonomischen und sozio-kulturellen Dimensionen thematisieren und deren Wechselwirkungen aufzeigen, fehlt es oft an einer tiefgehenden Reflexion dominanter, nicht-nachhaltiger Alltagsideologien. 

      Das Konzept der transformativen Bildung wurde maßgeblich durch das Gutachten Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) aus dem Jahr 2011 bekannt. In diesem Gutachten plädiert der WBGU für eine vollständige Dekarbonisierung der Wirtschaft und ein damit einhergehendes umfassendes Zivilisationsprojekt der Menschheit. 

      „Die historisch einmalige Herausforderung besteht darin, einen umfassenden Umbau aus Einsicht, Umsicht und Voraussicht voranzutreiben.“ (WBGU, 2011: 5)

      Ein Grund für den Erfolg der Integrierung von nachhaltiger Entwicklung und BNE liegt möglicherweise in ihrer konzeptuellen Vagheit. Der individuelle und gesellschaftliche Such-, Lern- und Gestaltungsprozess nachhaltiger Entwicklung hat in den vergangenen Jahren eine enorme Integrationskraft für unterschiedliche politische Positionen entfaltet (Stoltenberg & Burandt, 2014). Gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr, dass dieser Prozess kritischere Perspektiven, wie etwa die der starken Nachhaltigkeit, marginalisiert und zu einer Depolitisierung ökologischer und sozialer Debatten beiträgt (Fatheuer et al., 2015). Häufig wird nachhaltige Entwicklung mit Argumentationen einer neoliberalen Wachstumslogik in Einklang gebracht, was die transformative Kraft der BNE schwächt.

      Problematisch an vielen Programmen zur Institutionalisierung von BNE ist zudem, dass sie oft nur auf der institutionellen und nicht parallel auf der individuellen Ebene ansetzen. Viele Projekte zeigen zwar eine gewisse Wirkung hinsichtlich des Nachhaltigkeitswissens junger Menschen, berühren jedoch nur sehr eingeschränkt deren Haltungen und Verhalten (Niebert, 2016). Dies führt zu einem Rückzug der BNE auf das ‚Brundtland-Mantra‘, welches eine vermeintliche Passung von Nachhaltigkeit und wirtschaftlichem Wachstum suggeriert und damit einer kritischeren Ausrichtung in der BNE entgegensteht (Selby & Kagawa, 2010).

      Selby und Kagawa (2010) kritisieren die unkritische und stillschweigende Annahme von Wirtschaftswachstum als einzigem Paradigma sowie den instrumentellen und utilitaristischen Blick auf Natur und Ökosysteme, der in vielen BNE-Ansätzen vorherrsche. Sie fordern stattdessen eine stärkere Reflexion und Hinterfragung von nicht-nachhaltigen Werten, Normen und Ideologien, die unsere Gesellschaft prägen (Selby & Kagawa, 2011). Dies schließt die Reflexion historisch bedingter Macht- und Herrschaftsverhältnisse ein, die das gegenwärtige ökonomische und soziale Gefüge beeinflussen (Danielzik, 2013).

      Die Probleme einer nicht-nachhaltigen, wachstumsorientierten Gesellschaft äußern sich in der Nachhaltigkeitsdebatte insbesondere in Gerechtigkeitsfragen, Globalisierungskritik und alternativen ökonomischen Modellen. Allerdings sind BNE-Projekte oft eingezwängt in schulische Strukturen, was ihre transformative Wirkung einschränkt (Michelsen et al., 2015). Diese strukturellen Beschränkungen können zu Widersprüchen zwischen gesellschaftlicher Praxis und den vermittelten Inhalten führen, was bei den Lernenden mindestens zu einer kognitiven Dissonanz, wenn nicht sogar zu einer problematischen Einrichtung in gelebte Widersprüchlichkeit führt (Festinger, 1957). In vielen Fällen bleibt die genuin nicht-nachhaltige Praxis der ‚Normalbetrieb‘, der durch Reflexionsprozesse über nachhaltige Handlungen nicht gestört wird.

      Um eine echte Transformation zu erreichen, muss die BNE über die bestehenden institutionellen Rahmen hinausgehen und kritischere, radikalere Perspektiven integrieren, die die tief verwurzelten ökonomischen und sozialen Strukturen in Frage stellen. Es ist notwendig, das bestehende Imaginäre bzw. die individuellen Bedeutungsperspektiven zu desorientieren und neue, nachhaltigere Bedeutungsrahmen zu entwickeln, die den Weg zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft ebnen können.


    • Reflexionsübung: Wachstum ist…

      Diese Selbstreflexionsübung dient Ihnen dazu, Ihre eigenen Gedanken zu den Begriffen Wachstum & sozial-ökologische Transformation zu erfassen und eine persönliche Interpretation dieses Begriffs zu entwickeln. Nehmen Sie sich 10 Minuten Zeit zum Sammeln Ihrer Gedanken und beantworten die beiden nachfolgenden Fragen.

      Wichtig: Das 'erfolgreiche' Absolvieren der Reflexionsaufgabe ist Voraussetzung, um zur endgültigen Prüfungsleistung zugelassen zu werden.


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      Von schwacher zu starker Nachhaltigkeit: 
      Das Anthropozän und die Grenzen des Wachstums

      In den letzten Jahrzehnten hat sich zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Orientierung am wachstumsorientierten Pfad der westlichen Gesellschaften für das Erreichen globaler Nachhaltigkeitsziele und die Förderung globaler Gerechtigkeit hinderlich ist. Diese Einsicht ist nicht neu; bereits in den 1970er Jahren hat der Bericht Limits to Growth des Club of Rome die Diskussion darüber angestoßen, inwieweit dem wirtschaftlichen Wachstum aufgrund der endlichen natürlichen Ressourcen klare Grenzen gesetzt sind (Meadows et al., 1972). Diese kritische Denkschule hat seither an Bedeutung gewonnen, da immer mehr Belege darauf hinweisen, dass ein unbegrenztes Wachstum nicht mit den ökologischen Kapazitäten unseres Planeten vereinbar ist.

      Mittlerweile zeigen auch die Klimawissenschaften eindeutig, dass die Globale Erwärmung in Folge des Treibhauseffektes auf das anthropogene Eingreifen in die natürliche Umwelt zurückzuführen ist (Lee et al., 2023). Die Idee des Anthropozäns greift diese Erkenntnisse auf und postuliert, dass der Mensch zum dominierenden Faktor der planetaren Bedingungen geworden ist (Crutzen, 2002). Dieses Konzept unterstreicht die Notwendigkeit, das menschliche Handeln in den Fokus globaler Nachhaltigkeitsstrategien zu rücken, da die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten die planetaren Grenzen immer weiter überschreiten.

      Visualisierung des Menschen als dominierender Faktor der planetaren Bedingungen

      @DALL-E

      Ein weiteres bedeutendes Konzept in diesem Zusammenhang ist das der Planetary Boundaries, welches von Rockström et al. (2009) entwickelt wurde. Dieses Modell identifiziert neun planetare Grenzen, deren Überschreitung das stabile Umfeld gefährdet, das das Leben auf der Erde ermöglicht. Das Konzept The Great Acceleration (Steffen et al., 2015) ergänzt diese Perspektive, indem es die exponentiellen Wachstumsraten des globalen Bruttoinlandsprodukts und andere sozioökonomische Trends in Zusammenhang mit den rapiden Wachstumsraten von Erdsystemtrends wie der atmosphärischen CO2-Konzentration, der globalen Oberflächentemperatur und der Ozeanversauerung stellt. Diese Entwicklungen verdeutlichen, dass ökonomisches Wachstum einer der zentralen Treiber für die beschleunigte Veränderung unserer Umweltbedingungen ist.

      Angesichts dieser Erkenntnisse wird es zunehmend notwendig, das Paradigma des ökonomischen Wachstums als zentralen Treiber gesellschaftlicher Weiterentwicklung in Frage zu stellen. Ökologische und soziale Ziele dürften nicht länger dem Wachstumsparadigma untergeordnet werden. Stattdessen muss eine Neubewertung stattfinden, bei der ökologische und soziale Nachhaltigkeit gleichrangig behandelt werden.

      Unter dem Begriff Nachhaltigkeit wird oft die Gleichrangigkeit der Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales subsummiert (Grunwald & Kopfmüller, 2006; Michelsen & Adomßent, 2014). Allerdings wird in wachstumskritischen Debatten zunehmend die schwache Nachhaltigkeit als unzureichend kritisiert. Aus der Perspektive des Degrowth-Ansatzes, der eine Reduktion des Ressourcenverbrauchs und eine Umgestaltung der Wirtschaft hin zu einem nachhaltigen und gerechten System fordert, ist schwache Nachhaltigkeit nicht tragbar.

      Stattdessen wird die Forderung nach einer starken Nachhaltigkeit laut, wie sie von Ott und Döring (2004) vertreten wird. Diese Perspektive geht davon aus, dass ökologische Systeme die Grundlage für Wirtschaft und Gesellschaft bilden und dass die wirtschaftliche Sphäre als soziales Konstrukt den Bedürfnissen der Menschen angepasst werden muss, wobei die natürlichen Grenzen strikt zu beachten sind. Die Wirtschaft müsse sich innerhalb der ökologischen Grenzen bewegen und auf die sozialen Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet sein.

      Trotz dieser wichtigen Argumente hat die Integration von Wachstumskritik in die Nachhaltigkeitsdebatte bisher nur marginal stattgefunden; insbesondere in der Diskussion um Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE). Obwohl BNE darauf abzielt, die Lernenden für nachhaltige Entwicklungsziele zu sensibilisieren und zu befähigen, bleibt die Einbeziehung wachstumskritischer Perspektiven in den Bildungsdiskurs oft unterrepräsentiert. Eine stärkere Berücksichtigung dieser Perspektiven könnte jedoch dazu beitragen, eine tiefgreifendere Reflexion über die Grenzen des Wachstums zu fördern und alternative Wege zur Erreichung globaler Nachhaltigkeitsziele zu entwickeln.


    • Die Degrowth- und Postwachstumsbewegung: 
      Alternativen zum Wachstumsparadigma

      In den 1970er Jahren entwickelte sich eine wachstumskritische Bewegung, die sich maßgeblich auf die Arbeiten des Club of Rome und auf Vordenker aus der ökologischen Ökonomie stützte. Ein prominentes Beispiel hierfür ist Nicholas Georgescu-Roegen, dessen Arbeiten entscheidend dazu beitrugen, die postulierten Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums in den Fokus der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatte zu rücken. Diese Bewegung stellte das ungebremste Wirtschaftswachstum als zentrales Ziel der westlichen Gesellschaften zunehmend infrage und betonte die Notwendigkeit, die ökologischen Grenzen des Planeten zu berücksichtigen.

      Wachstum wird in diesem Kontext als eine ‚negative Denkungsart‘ betrachtet, die Praktiken, Grundeinstellungen und Formen des Miteinanders wirksam beeinflusst (Muraca, 2013, S. 26). Die Kritik richtet sich gegen die tief verankerte Vorstellung, dass ständiges Wachstum notwendig und wünschenswert sei, und zeigt auf, wie dieses Denken nicht nur die Umwelt, sondern auch soziale Beziehungen und individuelle Lebensweisen negativ beeinflusst.

      Aus dieser wachstumskritischen Perspektive heraus entwickelte sich die Degrowth-Bewegung, die stark heterogen ist und eine Vielzahl von Strömungen umfasst. Eversberg und Schmelzer (2016) betonen, dass Degrowth unterschiedliche ideologische und politische Positionen vereint, die von konservativen über sozialreformerische und suffizienzorientierte bis hin zu kapitalismuskritischen und feministischen Ansätzen reichen. Trotz dieser Heterogenität steht Degrowth grundsätzlich für eine Kapitalismus- und Herrschaftskritik, die die individuelle und kollektive Praxis im Hier und Jetzt zum zentralen Ausgangspunkt umfassender Gesellschaftsveränderungen macht.

      Eine prägnante Definition von Sustainable Degrowth findet sich bei Schneider et al. (2010, S. 512), die es als eine gerechte Reduzierung von Produktion und Konsum definieren, die das menschliche Wohlbefinden steigert und die ökologischen Bedingungen auf lokaler und globaler Ebene, sowohl kurz- als auch langfristig, verbessert. Dieses Konzept unterscheidet sich deutlich von einer durch Krisen provozierten ökonomischen Rezession oder Depression, die sich durch eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und die Prekarisierung großer Teile der Bevölkerung auswirken würde. Stattdessen geht es um ein geplantes Schrumpfen von Produktion und Konsum, insbesondere in den Ländern des Globalen Nordens, das sich an ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitszielen orientiert.

      Visualisierung von Degrowth, bei der sowohl die Reduktion als auch die Einfachheit im Vordergrund stehen

      @DALL-E

      Im deutschsprachigen Raum hat sich zusätzlich der Begriff Postwachstum etabliert, der vor allem durch die Arbeiten von Seidl und Zahrnt (2010) geprägt wurde. Im Zentrum der Postwachstumsdebatte steht die Umgestaltung gesellschaftlicher Institutionen, um eine Entwicklung innerhalb der ökologischen Grenzen zu ermöglichen. Dabei wird insbesondere die kulturelle Orientierung am Bruttoinlandsprodukt (BIP) problematisiert. Während das BIP traditionell als Hauptindikator für wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftlichen Fortschritt gilt, wird in der Postwachstumsdebatte zunehmend betont, dass das BIP kein geeignetes Maß für Wohlstand und Lebensqualität ist. Stattdessen sollten andere Indikatoren, die ökologische und soziale Aspekte stärker berücksichtigen, in den Vordergrund rücken.

      Ein zentraler Unterschied zwischen Degrowth und Postwachstum liegt in der Gewichtung des Wirtschaftswachstums selbst. Während Degrowth explizit eine Verringerung von Produktion und Konsum anstrebt, ist in der Postwachstumsdebatte die Frage, ob die Wirtschaft wächst, schrumpft oder stagniert, eher zweitrangig. Wichtiger ist hier die Umgestaltung der gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen, um ein gutes Leben für alle Menschen innerhalb der ökologischen Grenzen zu ermöglichen.

      Beide Bewegungen teilen jedoch die Überzeugung, dass das gegenwärtige Wachstumsparadigma überwunden werden muss, um globale Nachhaltigkeitsziele zu erreichen und soziale Gerechtigkeit zu fördern. Sie setzen sich für alternative Entwicklungsmodelle ein, die ökologische und soziale Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellen und sich von der Fixierung auf kontinuierliches Wirtschaftswachstum lösen. Diese Ansätze bieten eine kritische Perspektive auf die dominierenden ökonomischen Theorien und fordern eine tiefgreifende Transformation unserer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme.


    • Wachstum ohne Ressourcenverbrauch? 
      Green Growth & Rebound-Effekte

      Das Konzept der Green Economy oder des Green Growth hat in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen und steht für Ansätze, die auf grüne Innovationen, grünes Wachstum und eine grüne industrielle Revolution setzen. Diese Konzepte basieren auf der Hoffnung, dass es möglich ist, Wirtschaftswachstum von negativen Umweltwirkungen zu entkoppeln. Befürworter wie Ralf Fücks (2015) argumentieren für eine neue Vision des Wachstums, die in Zukunft grün und inklusiv sein soll. Dabei wird am Wachstumsparadigma grundsätzlich festgehalten, allerdings mit der Vorstellung, dass dieses Wachstum nachhaltiger gestaltet werden kann.

      Visualisierung einer Green Economy, in der nachhaltige und umweltfreundliche Praktiken im Mittelpunkt stehen

      @DALL-E

      Allerdings gibt es eine zunehmende Erkenntnis darüber, dass die vollständige Entkopplung des Wachstums vom Ressourcenverbrauch nicht möglich ist. Simms et al. (2010) betonen, dass trotz technologischer Fortschritte und Effizienzsteigerungen eine solche Entkopplung in der Praxis schwer zu realisieren ist. Ein zentrales Hindernis dabei sind die Rebound-Effekte, die von Santarius (2012) ausführlich beschrieben werden. Diese Effekte treten auf, wenn die durch effizientere Technologien eingesparten Ressourcen dadurch wieder aufgezehrt oder sogar überkompensiert werden, dass die Produktivitätssteigerungen und die damit einhergehenden Kostensenkungen zu einer erhöhten Nachfrage führen. Diese Dynamiken lassen sich sowohl auf der Ebene individueller Haushalte und Konsummuster als auch auf der Ebene von Volkswirtschaften beobachten (Santarius, 2015).

      Um die Herausforderungen der Green Economy zu bewältigen, wird eine doppelte Entkopplung gefordert. Dies bedeutet einerseits die Entkopplung des aktuellen Wohlstandsniveaus vom BIP und andererseits die Reduktion der ökologischen Auswirkungen wirtschaftlicher Aktivitäten. Es wird dabei nicht nur angestrebt, dass der Naturverbrauch einer Volkswirtschaft langsamer wächst als das BIP (relative Entkopplung) oder dass der Energie- und Ressourcenverbrauch sogar zurückgeht, während das BIP ansteigt (absolute Entkopplung). Vielmehr geht es darum, dass der Naturverbrauch sinkt, während das Wohlstandsniveau einer Gesellschaft steigt – wobei dieses Wohlstandsniveau nicht allein am BIP gemessen wird (Palzkill et al., 2015).

      Dieses erweiterte Verständnis von Entkopplung integriert normative Perspektiven der Gerechtigkeit und fordert ein Umdenken darüber, wie Wohlstand definiert und gemessen wird. Anstatt den wirtschaftlichen Erfolg einer Gesellschaft ausschließlich am BIP zu messen, sollte der Fokus auf einem breiteren Verständnis von Wohlstand liegen, das soziale und ökologische Dimensionen gleichermaßen berücksichtigt. Dies impliziert eine tiefgreifende Transformation nicht nur der Wirtschaftsweise, sondern auch der gesellschaftlichen Werte und Ziele.

      Die Green Economy versucht, diese Transformation zu gestalten, indem sie auf technologische Innovationen und Effizienzgewinne setzt. Dennoch bleibt die Kritik, dass ohne eine grundlegende Veränderung des Konsumverhaltens und der sozialen Strukturen die gewünschten ökologischen und sozialen Ziele nicht erreicht werden können. Die Rebound-Effekte zeigen deutlich, dass technologische Lösungen allein nicht ausreichen, um die ökologischen Herausforderungen zu bewältigen, wenn sie nicht von einer Veränderung der gesellschaftlichen Praktiken und Werte begleitet werden.


    • Commons in Gefahr: Die Herausforderungen durch Kommerzialisierung und die Chancen kooperativer Nutzung

      Die Commons-Bewegung, die auf die Arbeiten von Elinor Ostrom (1990) und die Debatte um die Tragedy of the Commons nach Garrett Hardin (1968, 2009) zurückgeht, beschäftigt sich mit der kooperativen Nutzung von Gemeingütern und stellt eine bedeutende Gegenbewegung zu den Praktiken der Privatisierung und Kommerzialisierung gemeinsam genutzter Ressourcen dar. Hardin warnte in seiner berühmten Arbeit vor der Gefahr, dass unregulierte Allmenden – also Ressourcen, die von vielen Menschen gemeinsam genutzt werden – zwangsläufig übernutzt und zerstört würden. Ostrom widersprach dieser Sichtweise jedoch und zeigte anhand zahlreicher Fallstudien, dass Gemeinschaften durchaus in der Lage sind, ihre Ressourcen nachhaltig zu bewirtschaften, wenn sie über geeignete Regeln und Institutionen verfügen.

      Visualisierung der kooperativen Nutzung der Commons, bei der Menschen gemeinsam Ressourcen teilen und verwalten

      @DALL-E

      Die Commons-Bewegung kritisiert die fortschreitende Privatisierung und Kommerzialisierung von Gemeingütern, die als ‚Einhegung der Commons‘ bezeichnet wird. Diese Kritik richtet sich gegen die Praxis, öffentliche Räume und gemeinschaftlich genutzte Ressourcen für gewerbliche Zwecke zu vereinnahmen und zu kommerzialisieren (Helfrich & Bollier, 2014, S. 16). Ein besonders drastisches Beispiel für diese Entwicklung ist das sogenannte Landgrabbing, bei welchem z. B. Kleinbauern enteignet werden, um Land für kommerzielle Agrarprojekte oder andere profitgetriebene Nutzungen bereitzustellen. Diese Praxis führt nicht nur zu einer Einschränkung der Freiheitsrechte der betroffenen Gemeinschaften, sondern auch zu erheblichen sozialen und ökologischen Problemen.

      Darüber hinaus kritisiert die Commons-Bewegung die Rolle umweltschädlicher Subventionen, die zur institutionell motivierten und finanzierten Übernutzung von Gemeingütern beitragen. Diese Subventionen fördern oft die Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch industrielle Landwirtschaft, Fischerei oder Forstwirtschaft, was zu erheblichen Umweltschäden und dem Verlust von Biodiversität führt. Diese Entwicklungen sind eng mit den Dynamiken der Wachstumsgesellschaft verbunden, die auf kontinuierliches wirtschaftliches Wachstum setzt, oft ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Kosten.

      In Reaktion auf diese Herausforderungen hat sich innerhalb der Commons-Bewegung eine Vielzahl von Peer-to-Peer-Projekten entwickelt, die darauf abzielen, Gemeingüter zurückzugewinnen und neue Formen der kooperativen Nutzung zu etablieren. Diese Projekte bieten sozial-ökologische Alternativen zum herrschenden Wirtschaftssystem und machen die Vorteile von Kooperation und gemeinschaftlicher Nutzung erfahrbar. Beispiele hierfür sind gemeinschaftlich verwaltete urbane Gärten, offene Softwareprojekte oder lokale Energiegenossenschaften, die auf der Basis von Kooperation und geteilten Ressourcen arbeiten.


    • Eine Wirtschaft für alle: Gemeinwohlökonomie als Weg zu sozialer Gerechtigkeit & Nachhaltigkeit

      Das Konzept der Gemeinwohlökonomie, entwickelt von Christian Felber (2012), stellt einen alternativen Ansatz zur herkömmlichen marktwirtschaftlichen Ordnung dar, der sich stark auf die Vergesellschaftung von Wirtschaft und die Förderung gemeinschaftlicher Werte konzentriert. Im Gegensatz zu einem Wirtschaftssystem, das auf individuelle Gewinnmaximierung und Wettbewerb ausgerichtet ist, basiert die Gemeinwohlökonomie auf Prinzipien wie Vertrauensbildung, Wertschätzung, Kooperation, Solidarität und Teilen. Diese Werte sollen das menschliche und gemeinschaftliche Leben fördern und tragen dazu bei, dass ökonomische Aktivitäten nicht nur materiellen Wohlstand, sondern auch soziale und ökologische Gerechtigkeit schaffen.

      Felber beschreibt diese Prinzipien als „humane Grundwerte, die das menschliche und gemeinschaftliche Leben gelingen lassen“ (Felber, 2012, S. 35). Sie bilden das Fundament der Gemeinwohlökonomie und bieten eine ethische Orientierung für wirtschaftliches Handeln. Anstatt den Erfolg eines Unternehmens ausschließlich an finanziellen Kennzahlen wie Umsatz und Gewinn zu messen, rückt die Gemeinwohlökonomie die Frage in den Mittelpunkt, inwieweit wirtschaftliche Aktivitäten dem Gemeinwohl dienen und zur Verbesserung der Lebensqualität in der Gesellschaft beitragen.

      Visualisierung einer Gemeinwohlökonomie, die das Wohl der Gemeinschaft in den Vordergrund stellt

      @DALL-E

      Ein zentrales Instrument der Gemeinwohlökonomie ist die Gemeinwohl-Bilanz, die von genossenschaftlichen und anderen sozial ausgerichteten Unternehmen erstellt wird. Diese Bilanz bewertet, wie stark ein Unternehmen den Prinzipien der Gemeinwohlökonomie folgt und welchen Beitrag es zum Gemeinwohl leistet. Dabei werden verschiedene Aspekte wie die Arbeitsbedingungen, die Umweltauswirkungen, die Gleichstellung und die Einhaltung ethischer Standards berücksichtigt. Unternehmen, die eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen, verpflichten sich, ihre Geschäftsmodelle und Geschäftspraktiken an den Werten der Solidarität, Nachhaltigkeit und sozialen Gerechtigkeit auszurichten.

      Die Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz bietet nicht nur eine Möglichkeit, die soziale Verantwortung und Nachhaltigkeit eines Unternehmens sichtbar zu machen, sondern schafft auch Anreize für Unternehmen, ihre Praktiken kontinuierlich zu verbessern. Durch die regelmäßige Bewertung und Veröffentlichung der Bilanz können Unternehmen ihre Fortschritte transparent machen und sich im Wettbewerb positiv abheben, indem sie zeigen, dass sie nicht nur ökonomische, sondern auch soziale und ökologische Ziele verfolgen.

      Die Gemeinwohlökonomie stellt somit eine umfassende Vision für eine Wirtschaft dar, die nicht allein auf Profitmaximierung abzielt, sondern das Wohl aller Menschen und den Schutz der Umwelt in den Vordergrund stellt. Durch die Umsetzung der Prinzipien der Gemeinwohlökonomie wird ein Rahmen geschaffen, in dem wirtschaftliche Aktivitäten nicht nur ökologisch nachhaltig, sondern auch sozial gerecht gestaltet werden können.


    • Unsichtbare Arbeit sichtbar machen:
      Vorsorgendes Wirtschaften aus einer feministischen Perspektive

      Die feministische Ökonomie, vertreten durch Denkerinnen wie Marilyn Waring (1988) sowie Adelheid Biesecker und Uta von Winterfeld, stellt eine fundamentale Kritik am wachstumsorientierten Marktparadigma dar. Diese Denkschule argumentiert, dass die etablierten Märkte zwar die Erwerbsarbeit, die Gewinn abwirft, in den Vordergrund stellen und in Wert setzen, gleichzeitig aber wesentliche Bereiche der Gesellschaft ausgrenzen – insbesondere die unbezahlte Care- und Reproduktionsarbeit, die überwiegend von Frauen geleistet wird (Biesecker & von Winterfeld, 2015). Diese Arbeiten, die für den Erhalt und die Reproduktion der Gesellschaft unerlässlich sind, werden in der traditionellen Wirtschaftstheorie und -praxis oft ignoriert oder als weniger wertvoll angesehen, obwohl sie grundlegende Voraussetzungen für die produktive Erwerbsarbeit schaffen.

      Eine nachhaltige Wirtschaft, die einen hohen Anteil an Selbstversorgung aufweist und ökologische wie soziale Ziele verfolgt, kann jedoch nur dann erreicht werden, wenn auch diese im Schatten der Marktökonomie stehenden Bereiche mitgedacht und integriert werden. Feministische Ökonominnen & Ökonomen betonen, dass sowohl bezahlte als auch unbezahlte Arbeit in die wirtschaftliche Planung und Bewertung einbezogen werden müssen, um eine wirklich nachhaltige und gerechte Wirtschaft zu gestalten.

      Visualisierung einer vorsorgenden Wirtschaft mit einem hohen Anteil an Selbstversorgung

      @DALL-E

      Die feministische Ökonomie plädiert für eine grundlegende Neuausrichtung der Wirtschaft, die sich an Prinzipien der Vorsorge statt Nachsorge, Kooperation statt Konkurrenz und der Orientierung am Lebensnotwendigen statt am rein Monetären orientiert (Biesecker et al., 1997). Dieses Konzept einer ‚vorsorgenden Wirtschaft‘ stellt eine Alternative zur herkömmlichen wachstumsorientierten Ökonomie dar. Es zielt darauf ab, eine Wirtschaft zu schaffen, die im Akt des Herstellens und Verbrauchens gleichzeitig das Wiederherstellen und Erneuern der Produktionsvoraussetzungen gewährleistet.

      Das Konzept des ‚vorsorgenden Wirtschaftens‘ betont, dass ökonomische Aktivitäten nicht nur darauf abzielen sollten, monetäre Gewinne zu maximieren, sondern auch die Grundlagen für zukünftige Produktionsprozesse sichern und erneuern sollten. Dies bedeutet, dass Ressourcen schonend genutzt, soziale Bindungen gepflegt und natürliche Lebensgrundlagen erhalten werden müssen. In einer solchen Wirtschaft wird der Fokus von kurzfristigen Profitinteressen auf langfristige Nachhaltigkeit verlagert, und es wird anerkannt, dass unbezahlte Care- und Reproduktionsarbeit genauso wertvoll und unverzichtbar ist wie bezahlte Erwerbsarbeit.



    • Übung: Who cares?

      Überlegen Sie sich eine Utopie Ihres idealen Tagesablaufs und schreiben diese auf. Dazu gehört alles, wofür an einem normalen Tag Zeit aufgewendet wird. Wie läuft Ihr idealer Tag ab? Wie viel Zeit verwenden Sie in etwa auf welche Tätigkeiten?

      Wichtig: Das erfolgreiche Absolvieren der Reflexionsaufgaben ist erforderlich, um zur endgültigen Prüfungsleistung zugelassen zu werden.


    • Kapitalozän und Klimagerechtigkeit: 
      Die ungleiche Verteilung ökologischer Lasten

      Das Konzept der Klima- und Umweltgerechtigkeit gewinnt angesichts der zunehmenden globalen ökologischen Krise immer mehr an Bedeutung. Ein Indikator für die drängenden Probleme in diesem Bereich ist der jährlich berechnete Earth Overshoot Day, der sich kontinuierlich nach vorne verlagert. Dieser Tag markiert den Zeitpunkt im Jahr, an dem die Menschheit die Menge an natürlichen Ressourcen verbraucht hat, die der Erde unter nachhaltigen Bedingungen für ein ganzes Jahr zur Verfügung stünden. Besonders die frühindustrialisierten Länder nehmen dabei eine Vorreiterrolle ein: Sie verbrauchen ihre zugewiesenen Ressourcenanteile weit früher im Jahr und leben somit auf Kosten des globalen Südens und zukünftiger Generationen. Diese Ungerechtigkeit zeigt sich deutlich in der ungleichen Verteilung der ökologischen und sozioökonomischen Lasten und Nutzen.

      Ein weiterer Aspekt der Ungleichheit manifestiert sich in den sozioökonomischen Trends der sogenannten ‚großen Beschleunigung‘, wie Steffen et al. (2015) es beschreiben. Diese Trends umfassen exponentielle Wachstumskurven in Bereichen wie der globalen Bevölkerung, der industriellen Produktion und dem Ressourcenverbrauch. Allerdings sind die Auswirkungen dieses Wachstums ungleich verteilt: Während die frühindustrialisierten Länder den größten Nutzen aus dem wirtschaftlichen Wachstum ziehen, tragen sie nur einen Bruchteil der ökologischen und sozialen Kosten, die vor allem auf die Länder des globalen Südens abgewälzt werden.

      Ein zentraler Faktor, der diese Ungleichheiten befördert, ist die Kapitalakkumulation, die von einigen Expertinnen & Experten als wesentliche Triebkraft der globalen Erdtransformation angesehen wird. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird Kapital vor allem in den Volkswirtschaften der westlichen Industrienationen akkumuliert. Diese Konzentration von Reichtum in wenigen Ländern und bei einer kleinen Elite ist ein wesentliches Merkmal des modernen Kapitalismus, wie Thomas Piketty (2014) in seinen Studien zur Ungleichheit aufzeigt. Diese Kapitalakkumulation geht nicht nur mit einer Zunahme der Ungleichheit innerhalb und zwischen den Nationen einher, sondern führt auch zu einer globalen Verschiebung der ökologischen Lasten.

      In diesem Zusammenhang sprechen Autoren wie Elmar Altvater (2015) und Jason W. Moore (2015) von einem Kapitalozän. Dieser Begriff beschreibt eine Epoche, in der das Kapital zum dominierenden Einflussfaktor auf die planetaren Bedingungen geworden ist. Die ökologische Zerstörung und die Klimakrise werden dabei als direkte Konsequenzen eines kapitalistischen Systems verstanden, das auf ständiges Wachstum und Profitmaximierung ausgerichtet ist und dabei die natürlichen Grenzen des Planeten systematisch überschreitet.

      Diese Dynamik führt zu einer tiefen Ungerechtigkeit, sowohl innerhalb der heutigen globalen Gesellschaft als auch zwischen den gegenwärtigen und zukünftigen Generationen. Während die ökonomischen und technologischen Vorteile des Wachstums hauptsächlich von den frühindustrialisierten Ländern genossen werden, tragen die am wenigsten entwickelten Länder und die Umwelt den größten Teil der damit verbundenen Lasten. Diese Ungleichheit manifestiert sich in der ungleichen Verteilung von Ressourcen und Emissionsrechten sowie in der ungleichen Belastung durch die Folgen des Klimawandels, wie extreme Wetterereignisse, Umweltzerstörung und Verlust der Biodiversität.

      Visualisierung, die zeigt, wie Wachstum & ökologische & soziale Kosten ungleich verteilt sind

      @DALL-E

      Vor diesem Hintergrund fordert das Konzept der Klima- und Umweltgerechtigkeit eine grundlegende Neuausrichtung der globalen Wirtschafts- und Umweltpolitik. Es betont die Notwendigkeit, die Verteilung der ökologischen und ökonomischen Ressourcen gerechter zu gestalten und die historischen Verantwortlichkeiten der Industrieländer anzuerkennen. Gleichzeitig wird gefordert, die Strukturen des Kapitalismus zu hinterfragen, die diese Ungleichheiten fördern, und alternative Modelle zu entwickeln, die soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellen. Diese Neuausrichtung ist entscheidend, um eine gerechtere und nachhaltigere Zukunft für alle Menschen auf diesem Planeten zu gewährleisten.


    • Dekolonisierung des Imaginären: 
      Kritik an der nachhaltigen Entwicklung selbst

      Die Entwicklungskritik als gerechtigkeitstheoretischer Begründungszusammenhang spielt eine zentrale Rolle in der Argumentation für Degrowth. Diese Kritik richtet sich gegen die vorherrschenden Vorstellungen von Entwicklung, die stark von westlichen, kapitalistischen und oft kolonialen Perspektiven geprägt sind. Die Degrowth-Bewegung sucht nach Alternativen zu diesen Konzepten und hinterfragt die normative Kraft des Entwicklungsparadigmas, das in ‚entwickelte‘ und ‚unterentwickelte‘ Länder unterteilt.

      Ein Beispiel für eine solche Alternative ist die Weltanschauung des Buen Vivir bzw. Sumak kawsay (das gute Leben), das von indigenen sozialen Bewegungen in Südamerika inspiriert und verbreitet wurde. Buen Vivir bietet eine fundamentale Kritik an den konventionellen Ideen von Entwicklung und berücksichtigt indigene Wissensbestände, die in den gängigen westlichen Entwicklungsmodellen oft ignoriert werden (Gudynas, 2015). Es geht dabei nicht um die Akkumulation von materiellen Gütern oder darum, in der Zukunft besser leben zu können, sondern darum, im Hier und Jetzt gut zu leben, wobei die Zufriedenheit der Mitglieder einer Gemeinschaft im Mittelpunkt steht. Diese Zufriedenheit soll jedoch nicht auf Kosten anderer Menschen oder der natürlichen Lebensgrundlagen erreicht werden. Vielmehr basiert Buen Vivir auf einer Ethik des Ausreichenden für die ganze Gemeinschaft und bricht grundsätzlich mit der anthropozentrischen Logik, indem es eine Wirtschaft fordert, die im Einklang mit der Natur steht (Acosta, 2015).

      Visualisierung des Konzepts von "Buen Vivir," das Harmonie zwischen Mensch, Gemeinschaft und Natur betont

      @DALL-E

      Ein zentrales Problem des herkömmlichen Entwicklungsbegriffs ist seine Normativität. Die Unterteilung in ‚entwickelte‘ und ‚unterentwickelte‘ Länder geht auf die Antrittsrede von Harry S. Truman im Jahr 1949 zurück, die das Zeitalter der Entwicklung einläutete (Esteva, 2010). Diese Dichotomie ist tief in der westlichen kolonialen Logik verankert, die suggeriert, dass das westliche Wohlstandsmodell der Industrienationen ein universeller und anzustrebender Zielzustand sei. Diese Sichtweise legitimiert vermeintlich Eingriffe in die ‚unterentwickelten‘ Teile der Welt und festigt die hegemoniale Machtstruktur, die die globalen Ungleichheiten aufrechterhält (Escobar, 2015).

      Angesichts dieser Kritik bedarf es nicht nur neuer Konzepte von Entwicklung, wie etwa der nachhaltigen Entwicklung, sondern echter Alternativen, die das Paradigma der Entwicklung grundsätzlich infrage stellen (Escobar, 2015). Die Verwendung von Begriffen wie ‚nachhaltige Entwicklung‘ oder ‚gerechte Entwicklung‘ wird dabei als ambivalent und problematisch betrachtet, da sie den Versuch darstellen, Beschädigung und Therapie im selben Begriff zu vereinen (Sachs, 2010; Scott & Gough, 2010).

      Im Kontext der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) wird oft die Reproduktion herkömmlicher Bilder über Entwicklung kritisiert. Gerade die inneren Bilder von Wachstum und Entwicklung tragen zu einer unreflektierten Stabilisierung der Wachstums- und Entwicklungsparadigmen bei. Diese Paradigmen sind tief in einem kollektiven und zum großen Teil unbewussten ‚Imaginären‘ verankert, einem Konzept, das Castoriadis (1987) als die Art und Weise beschreibt, wie Menschen ihre soziale Realität innerhalb von imaginären Bedeutungsrahmen konstruieren. Wenn Wachstum und Entwicklung Überzeugungen sind, die maßgebliche Kategorien westlicher Bedeutungsrahmen des Fortschritts und der Wirtschaft prägen, dann basiert der hartnäckige Erhalt des Entwicklungsbegriffs auf der nicht weniger erstaunlichen Resilienz des Fortschrittsbegriffs (Latouche, 2015).

      Um eine echte Transformation der Wirtschaft und der Gesellschaft zu erreichen, müssen auch die daran gebundenen Bedeutungsrahmen verändert werden. Es bedarf eines tiefgreifenden Wandels in den Bedeutungsperspektiven der Menschen in der westlichen Welt (Castoriadis, 2010). Dieser Wandel erfordert eine Dekolonisierung des Imaginären – das heißt, die Befreiung von den tief verwurzelten Vorstellungen und Ideologien, die das Denken und Handeln in der westlichen Gesellschaft dominieren. Wie Castoriadis (2010) in Latouche (2015, S. 117) betont: 

      „The achievement of a degrowth society therefore in part, means to decolonize our imaginary; to really change the world before the change of the world condemns us.“