Kurs: Der menschengemachte Klimawandel: Ursachen, Effekte und Lösungswege | OnCourse UB

  • Lektion 5

    • Hoffnungsschimmer: Über soziale Kipppunkte und die Donut-Ökonomie


      Das Konzept der Kippelemente und Kipppunkte wurde in den letzten Jahren auch im Kontext von sozialen Systemen diskutiert.

      Zitat

      Soziale Kipppunkte sind laut Juhola et al. (2023, S.2f) Punkte in sozioökonomischen Systemen, bei denen eine kleine Änderung der zugrundeliegenden Elemente oder des Verhaltens der Akteure eine abrupte, irreversible Veränderung im sozioökonomischen System auslöst.


      Beispiel

      In den 1950er-Jahren fanden Sozialwissenschaftler in den USA heraus, dass in vielen Stadtvierteln Dunkelhäutige und Weiße so lange zusammenlebten, bis der Anteil der Dunkelhäutigen auf 20% bis 30% anstieg. Ab diesem Schwellenwert begannen die Weißen massenhaft wegzuziehen. Allerdings ist der Begriff „Kippdynamik“ im sozialen Bereich vielleicht eher angebracht als der Begriff „Kipppunkt“.

      Soziale Kipppunkte könnten eine zentrale Rolle innerhalb der Klimakrise einnehmen. In den Sozialwissenschaften wird diskutiert, inwiefern gesellschaftliche Kippvorgänge eine entscheidende Voraussetzung dafür darstellen, dass ökologische Kippvorgänge vermieden werden können. Zugleich wird untersucht, inwiefern soziale Kipppunkte nicht nur positive, sondern auch negative Folgen haben können.

    • Viele kennen Phänomene, die als soziale Kipppunkte im Kleinen beschrieben werden könnten, aus dem eigenen Alltag. Beispiel Familienfest: Alle reisen wie immer mit dem Auto an. Eines Tages fängt eine Person an mit dem Zug anzureisen. Diese Verhaltensänderung wirkt ansteckend. Nach einigen weiteren Treffen reisen alle mit dem Zug an, selbst die größten Autoliebhaber. Man möchte vor den Anderen ja nicht schlecht dastehen. Die Upstander (Initiatoren) haben die Bystander (Zögerer) mitgerissen.
    • Soziale Kipppunkte

      Eine Grundthese des Konzepts der sozialen Kipppunkte und vieler Transformationsforscherinnen und –forscher ist, dass sich gesellschaftliche Normen und Werte schneller ändern können, als intuitiv vermutet. Sozialer Wandel braucht nicht zwangsläufig Mehrheiten, sondern kann auch durch einzelne Vorbildpersonen oder gesellschaftliche Minderheiten initiiert werden. Eine Studie von Centola et al. (2018, S. 1116f) legt beispielsweise nahe, dass schon ein Viertel der Bevölkerung ausreichen kann, um weitreichende soziale Veränderungen zu bewirken, viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen von einem noch geringeren Wert aus.

      Mit Bezug zur Klimakrise kann man ausgehend von einer Studie von Otto et al. (2020, S. 1ff) annehmen, dass die bisher als nahezu unmöglich erscheinenden Emissionsreduktionsraten, die jene während den großen sozioökonomischen Krisen des 20. Jahrhunderts (z. B. Zweiter Weltkrieg) noch übertreffen müssten, durch soziale Kippdynamiken möglich sind. 

      Ein Beispiel dafür ist die Flugscham, die von einem schwedischen Olympiaathleten angefacht und durch soziale Medien schnell verbreitet wurde und nun eventuell kurz vor dem „Kippen“ in soziale Normen und Überzeugungen steht (ebd., S. 8). 

      Ein weiteres Beispiel für einen schnellen sozialen Wandel kann der Arabische Frühling darstellen, der im Dezember 2010 als kleiner Protest in Tunesien begann und schnell zu einer breiten Bewegung gegen autoritäre Regime in arabischen Ländern anwuchs. Dieser ist allerdings zugleich auch ein Beispiel dafür, dass soziale Veränderungen nicht zwangsläufig irreversibel sind, denn nach anfänglichen Erfolgen wurden die meisten erreichten Veränderungen in den Folgejahren wieder zurückgenommen. 

      Der Arabische Frühling kann als Indiz dafür herangezogen werden, dass (erwünschte) soziale Veränderungen durch Institutionen stabilisiert werden müssen, um ein „Zurückkippen“ zu vermeiden (vgl. Juhola et al., 2022, S. 4).

    • Wichtig

      Otto et al., (2020, S. 5ff) identifizierten sechs soziale Kippelemente mit Potential für einen sozialen Durchbruch: 

      • der Energiesektor
      • menschliche Siedlungen
      • Finanzmärkte
      • Norm- und Überzeugungssysteme
      • Informationsfeedback und 
      • das Bildungssystem

      Die Zeit bis zum Erreichen eines sozialen Kipppunkts in den verschiedenen Kippelementen kann zwischen weniger als einem und mehr als dreißig Jahren liegen.

      Transformationsforscher sind sich weitgehend einig: Wenn eine engagierte Minderheit gut organisiert und gut vernetzt ist und vor allem soziale Medien strategisch sinnvoll einsetzt, dann kann sie Normen verändern und gesellschaftlich dominant werden. Allerdings nur, wenn schon eine gewisse Bereitschaft zum Wandel in der Bevölkerung vorhanden ist.

      Bei aller Hoffnung auf soziale Kipppunkte darf nicht vergessen werden, dass soziale Kippelemente auch in eine unerwünschte Richtung kippen können. Spaiser et al. (2023, S. 9) beschrieben in einer Studie, wie durch eine Intensivierung der Klimaveränderungen gesellschaftliches Vertrauen, Zusammenarbeit und Altruismus aufgrund eines zunehmenden Wettbewerbs um knappe Ressourcen, der Vertreibung von Bevölkerungsgruppen und weiterer Herausforderungen schwinden können.

    • Zusammenfassung und Ausblick

      Mit anderen Worten: Um planetare Grenzen nicht zu überschreiten und um das Erreichen von ökologischen Kipppunkten zu vermeiden, dürfen soziale Grenzen nicht unterschritten und sollten gegebenenfalls einige soziale Kipppunkte erreicht werden. Allerdings sind sowohl die ökologischen Kipppunkte als auch die sozialen Kipppunkte Gegenstand kontroverser Diskussionen.  Sicher ist:  Durch Ihr Studium an der Virtuellen Akademie Nachhaltigkeit befinden Sie sich auf einem sehr guten Weg, denn Nachhaltigkeitswissen ist eine wichtige Grundlage für ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltiges Handeln. Vielleicht werden Sie durch Ihr Denken und Handeln sogar eines Tages zu einem Pionier und tragen dazu bei, soziale Kipppunkte auszulösen und dadurch gesellschaftliche Veränderungsvorgänge hervorzurufen, die eine Grundlage für den Umgang mit den multiplen Krisen und globalen Herausforderungen unserer Zeit sind. Jeder Einzelne kann entscheidend sein, um einen sozialen Kipppunkt zu erreichen. Dafür braucht es vor allem Menschen, die sich klimafreundlich verhalten und darüber mit anderen sprechen. Und: mehr Donut.

    • Literatur und Quellen

      • Armstrong McKay, D. I., Staal, A., Abrams, J. F., Winkelmann, R., Sakschewski, B., Loriani, S., Fetzer, I., Cornell, S. E., Rockström, J., & Lenton, T. M. (2022). Exceeding 1.5°C global warming could trigger multiple climate tipping points. Science, 377(6611), eabn7950. https://doi.org/10.1126/science.abn7950
      • Centola, D., Becker, J., Brackbill, D., & Baronchelli, A. (2018). Experimental evidence for tipping points in social convention. Science, 360(6393), 1116–1119. https://doi.org/10.1126/science.aas8827
      • de   Haan,   G.    (2018).    In    der    Bildung    niemanden    zurücklassen.         https://www.bne- portal.de/bne/shareddocs/downloads/files/einzeltext_prof_de_haan_rne- almanach.pdf? blob=publicationFile&v=2
      • Juhola, S., Filatova, T., Hochrainer-Stigler, S., Mechler, R., Scheffran, J., & Schweizer, P.-J. (2022). Social tipping points and adaptation limits in the context of systemic risk: Concepts, models and governance. Frontiers in Climate, 4, 1009234. https://doi.org/10.3389/fclim.2022.1009234
      • Lenton, T. M. (2021). Tipping points in the climate system. Weather, 76(10), 325–326. https://doi.org/10.1002/wea.4058
      • Meckling, J. (2023). 2023 Doomsday Clock Statement. https://thebulletin.org/doomsday- clock/current-time/OECD. (2022). Executive Summary.
      • Otto, I. M., Donges, J. F., Cremades, R., Bhowmik, A., Hewitt, R. J., Lucht, W., Rockström, J., Allerberger, F., McCaffrey, M., Doe, S. S. P., Lenferna, A., Morán, N., Van Vuuren, D. P., & Schellnhuber, H. J. (2020). Social tipping dynamics for stabilizing Earth’s climate by 2050. Proceedings of the National Academy of Sciences, 117(5), 2354–2365. https://doi.org/10.1073/pnas.1900577117
      • Raworth, K. (2017). Doughnut economics: Seven ways to think like a 21st century economistChelsea Green Publishing.
      • Royal Netherlands Academy of Arts and Science (Hrsg.). (2023). Planetary health: An emerging field to be developed. Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences.
      • Spaiser, V., Juhola, S., Constantino, S. M., Guo, W., Watson, T., Sillmann, J., Craparo, A., Basel, A., Bruun, J. T., Krishnamurthy, K., Scheffran, J., Pinho, P., Okpara, U. T., Donges, J. F., Bhowmik, A., Yasseri, T., Safra De Campos, R., Cumming, G. S., Chenet, H., … Abrams,
      • J. F. (2023). Negative Social Tipping Dynamics Resulting from and Reinforcing Earth System Destabilisation [Preprint]. Climate change/Human/Earth system interactions/Other methods. https://doi.org/10.5194/egusphere-2023-1475