Soziale Kipppunkte
Eine Grundthese des Konzepts der sozialen
Kipppunkte und vieler Transformationsforscherinnen und –forscher ist, dass sich
gesellschaftliche Normen und Werte schneller ändern können, als intuitiv
vermutet. Sozialer Wandel braucht nicht zwangsläufig Mehrheiten, sondern kann
auch durch einzelne Vorbildpersonen oder gesellschaftliche Minderheiten initiiert werden. Eine Studie von Centola et al. (2018,
S. 1116f) legt beispielsweise nahe, dass schon ein Viertel der Bevölkerung ausreichen
kann, um weitreichende soziale Veränderungen zu bewirken, viele Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler gehen von einem noch geringeren Wert aus.
Mit Bezug zur Klimakrise kann man ausgehend von einer Studie von Otto et al. (2020, S. 1ff) annehmen, dass die bisher als nahezu unmöglich erscheinenden Emissionsreduktionsraten, die jene während den großen sozioökonomischen Krisen des 20. Jahrhunderts (z. B. Zweiter Weltkrieg) noch übertreffen müssten, durch soziale Kippdynamiken möglich sind.
Ein Beispiel dafür ist die Flugscham, die von einem schwedischen Olympiaathleten angefacht und durch soziale Medien schnell verbreitet wurde und nun eventuell kurz vor dem „Kippen“ in soziale Normen und Überzeugungen steht (ebd., S. 8).
Ein weiteres Beispiel für einen schnellen sozialen Wandel kann der Arabische Frühling darstellen, der im Dezember 2010 als kleiner Protest in Tunesien begann und schnell zu einer breiten Bewegung gegen autoritäre Regime in arabischen Ländern anwuchs. Dieser ist allerdings zugleich auch ein Beispiel dafür, dass soziale Veränderungen nicht zwangsläufig irreversibel sind, denn nach anfänglichen Erfolgen wurden die meisten erreichten Veränderungen in den Folgejahren wieder zurückgenommen.
Der Arabische Frühling kann als Indiz dafür herangezogen werden, dass (erwünschte) soziale Veränderungen durch Institutionen stabilisiert werden müssen, um ein „Zurückkippen“ zu vermeiden (vgl. Juhola et al., 2022, S. 4).