Kurs: Der menschengemachte Klimawandel: Ursachen, Effekte und Lösungswege | OnCourse UB

  • Lektion 4

    • Leben wir im Anthropozän?

    • Wie könnte man das Zeitalter bezeichnen, in dem wir leben? 

      In den Geisteswissenschaften werden Begriffe wie „Postmoderne“ oder „Spätmoderne“ diskutiert. Diese und weitere Begriffe zeigen, dass viele Menschen spüren, dass sich in den letzten Jahrzehnten fundamentale Veränderungen ereignet haben und das wir gerade an einer Epochenschwelle stehen. 

      In verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wird dieses Phänomen unter dem Begriff Global Change subsummiert oder als Great Acceleration ab den 1950er-Jahren bezeichnet (z. B. Gebhardt, 2016). 

      Kleiner Globus auf den eine Hand gerichtet istNoch populärer ist seit einigen Jahren der Begriff Anthropozän, der suggeriert, dass wir bereits in ein völlig neues (Erd-)Zeitalter eingetreten sind. Der Begriff Anthropozän kommt ursprünglich aus den Geowissenschaften und wurde vom Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen (1933 – 2021) ab 2000 in mehreren Artikeln wissenschaftlich popularisiert. Der Begriff soll verdeutlichen, dass die Menschheit zu einem wesentlichen Geofaktor geworden ist. 

      Oder aus systemischer Perspektive formuliert: dass die Anthroposphäre auf die Dynamik des Erdsystems einen entscheidenden Einfluss ausübt. Crutzen hatte dabei vor allem die Kohlenstoffdioxidemissionen und den menschlichen Einfluss auf das Klima im Blick (Gebhardt, S. 29ff).

    • Ausflug in die Geologie

      Um bewerten zu können, ob die Bezeichnung unseres Zeitalters als Anthropozän gerechtfertigt ist, bietet sich zunächst ein kurzer Ausflug in die Geologie an. Wie werden die verschiedenen Zeitabschnitte festgelegt? In erster Linie durch stratigraphische Verfahren, das heißt durch die Untersuchung von Gesteinsschichten. Durch relative Altersbestimmung (im einfachsten Fall liegt eine jüngere Schicht ungestört über einer älteren Schicht) und durch absolute Altersbestimmung (z. B. durch die Altersbestimmung von Fossilien) kann so die Erdgeschichte rekonstruiert werden. 

      Gesteinsschicht bei Teufelstich/Pfalz

      (Bild: Teufelstisch Kreuzschichtung.jpg von Geolina163 auf wikimedia commons, Lizenz: CC-BY-SA 3.0)


      Auf diese Weise wurde eine allgemein anerkannte geologische Zeitskala erstellt, die die Erdgeschichte in unterschiedliche Zeitabschnitte einteilt, z. B. in Äone (höchste Ebene, d. h. längste Zeitabschnitte) und in Epochen (niedrigere Ebene). Der erste Abschnitt, der von der Entstehung der Erde vor ca. 4,55 Milliarden bis ca. 4 Milliarden Jahre reicht, wird beispielsweise als Hadaikum bezeichnet. Danach folgen weitere große Zeitabschnitte (Äone), die wiederum in kleinere Zeitabschnitte unterteilt werden. Laut der geologischen Zeitskala befinden wir uns seit knapp 12.000 Jahren in der Epoche des Holozän. Oder vielmehr befanden wir uns, denn seit den 2000er-Jahren plädieren viele Wissenschaftler dafür, dass wir uns mittlerweile in der Epoche des Anthropozän befinden (z. B. Stehr & Storch, 2023).

    • Was spricht dennoch dafür, den Begriff Anthropozän zu verwenden?
      Beispielsweise ein Blick auf verschiedene Spuren, die der Mensch seit einigen Jahrzehnten unbestreitbar auf dem Planeten hinterlässt. Folgende Abbildung zeigt exemplarisch für viele weitere Stoffe, wie sehr der Wasser- und Düngerverbrauch, aber bspw. auch Bau der Staudämme, durch den Menschen angestiegen ist.


      (Quelle: Gebhardt, H.(2016): Das "Anthropozän" - zur Konjunktur eines Begriffs, S.28-42; in: Heidelberger Jahrbücher, Bd.1 (2016): Stabilität im Wandel; Daten: Steffen, W., Broadgate, W., Deutsch, L., Gaffney, O., & Ludwig, C. (2015): The trajectory of

      the Anthropocene: The Great Acceleration. The Anthropocene Review 2(1), S. 81–9)


      Im Englischen wird dabei häufig von hockeystick curves gesprochen, weil die Kurven durch das exponentielle Wachstum am Ende einem Hockeyschläger gleichen.

      Aus geowissenschaftlicher Perspektive gibt es aber auch viele Gründe dafür, den Begriff besser nicht zu verwenden. Ein Grund ist, dass geologische Epochen bisher immer erst im Nachhinein und als lange andauernde Zeiträume ausgewiesen wurden. Bei der Ausweisung des Anthropozäns hingegen müssen in Sedimenten der letzten gut 50 Jahre Spuren gefunden werden, die plausible Indizien für ein neues Zeitalter liefern. Die von der Anthropocene Working Group vorgeschlagenen Orte für Referenzprofile mit mindestens zwei Markern, an denen z. B. Spuren von radioaktivem Niederschlag oder Mikroplastik analysiert werden, wurden von manchen Wissenschaftlern als nicht aussagekräftig genug kritisiert (Luciano, 2022). 

      Diese Kritikpunkte greifen nicht, wenn der Begriff Anthropozän unabhängig von seinem geologischen Ursprung verwendet wird. Allerdings stellt sich dann die Frage, weshalb überhaupt auf einen genuin geologischen Begriff zurückgegriffen wird. Ein weiterer Kritikpunkt greift sowohl bei der Verwendung des Begriffs innerhalb als auch außerhalb der Geowissenschaften: Fast immer wird pauschal vom Einfluss der Menschheit oder des Menschen gesprochen, dabei sind für die allermeisten menschlichen Spuren nur wenige Menschen bzw. wenige Konzerne verantwortlich.

    • Zusammenfassung

      Zusammenfassend kann festhalten werden, dass die breite Diskussion und inflationäre Verwendung des Begriffs einige Schwierigkeiten mit sich brachte. Dass sich der menschliche Einfluss auf das Erdsystem seit der industriellen Revolution und nochmals viel deutlicher seit den 1950er-Jahren und ganz besonders deutlich in den letzten Jahren vergrößert hat, ist unbestritten. Der Begriff Anthropozän wurde für diesen Sachverhalt bereits vor Crutzen gebraucht und bereits Rachel Carson (1907 – 1964) beispielsweise hat das Phänomen treffend beschrieben: „Nur innerhalb des kurzen Augenblicks, den das jetzige Jahrhundert darstellt, hatte eine Spezies – der Mensch – erhebliche Macht erlangt, die Natur ihrer Welt zu verändern (Carson, 2013, S. 18).

      Die Verwendung des Begriffs Anthropozän ist sowohl in verschiedenen Wissenschaftsbereichen als auch in der Medienlandschaft attraktiv. Die Geologie braucht diesen Begriff aber eigentlich nicht. Mit der Verwendung des Begriffs werden heute in vielen Fällen strategische (oft disziplinäre) Interessen verfolgt, oder es verbirgt sich sogar ein politisches Statement dahinter. Wenn der Begriff dadurch jedoch als eine Art Brennglas dient, der das Interesse für die problematischen, menschlichen Einflüsse auf das Erdsystem weckt, den Blick schärft, Debatten anregt und vor allem umweltdienliche Handlungen provoziert, erscheint die Verwendung des Begriffs durchaus sinnvoll. In diesem Sinne: 

      Herzlich willkommen im Anthropozän!