Kurs: Der menschengemachte Klimawandel: Ursachen, Effekte und Lösungswege | OnCourse UB

  • Lektion 6

    • Fallbeispiel: Fürsorge im Schatten der Verwertungslogik


      Worum geht es in dieser Lektion?

      Wie geeignet sind die gegenwärtigen praktischen Rahmenbedingungen und normativen Setzungen, um den strukturellen Wertigkeiten der Fürsorge gerecht zu werden? In dieser Lektion wollen wir versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu finden.


    • Auf einen Punkt gebracht lässt sich die Antwort so formulieren:

      • Fürsorge, die privat oder bürgerschaftlich erbracht wird, gilt im jetzigen Sozialsystem als Störfaktor für erwerbszentrierte Lebensläufe.
      • Fürsorge, die beruflich erbracht wird, gilt als Kostenfaktor.

      Diese Unvereinbarkeiten führen zur Individualisierung der Care-Lücke sowie zur De-Professionalisierung der beruflich Sorgenden.

       

      Wie kommt dieses kritische Urteil über deutsche Sozialpolitik zustande?

      Die Grundsteine des deutschen Sozialstaats bestehen zwar seit Jahrzehnten in Form der Sozialversicherungs-, der Fürsorge- und Versorgungsleistungen. Doch die gesellschaftliche Dynamik hat die Leitbilder und die Ausgestaltung der Maßnahmen verschoben. Auf einen kurzen Nenner gebracht heißt das: vom fürsorgenden zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat (vgl. z. B. Dingeldey 2006).




    • Sollen Sie Probleme beim Hören der Audiospur haben oder einfach lieber Lesen als Hören, finden Sie hier eine Verschriftlichung der Thematik.


      Auf Grundlage des skizzierten Kohärenz-Modells lassen sich nun diese Leitvorstellungen und gesetzlich verankerten Deutungsmuster zusammenfassend beurteilen. Hier treten mehrere Inkohärenzen hervor:


      Gesellschaftliche Integration allein auf die Erwerbsarbeit zu beziehen, widerspricht ihrer Wertigkeit als eine der drei zu bewältigenden gesellschaftlichen Aufgabenbereiche. Mit der berufsbezogenen Leistungsethik liegt also eine systematische Verengung vor. Dass diese Interpretation eine historische Vorgeschichte hat, die unter anderem in der Reformation und der sich im Anschluss herausbildenden protestantischen Ethik wurzelt, widerlegt den systematischen Irrtum nicht, sondern kann nur dessen Hartnäckigkeit erklären (vgl. Fischer 2009, S. 33f.).

      Mit der Verengung des Integrationsgedankens und der sozialpolitischen Ausrichtung wird auch die Kohärenz zwischen Anerkennungsordnung und Reproduktionserfordernis gestört. Wertgeschätzt werden demnach erwerbszentrierte Biografien. Lebensentwürfen, die sich anderen Zielen widmen, wird die Anerkennung insofern vorenthalten, dass sie keine Berechtigung auf Existenzsicherung erwerben. Die Ausdeutung eines würdevollen Lebens, wie es das Grundgesetz in Artikel 1 festschreibt, gilt demnach nur für Arbeitssuchende. Einer Sicherung – auch der familiären und gemeinwohlbezogenen Tätigkeiten – steht diese Verengung entgegen.

      Es lassen sich auch Zweifel und Kritik an der Zielformulierung festmachen, denn das Vollbeschäftigungsziel ist offensichtlich nur unter negativen Bedingungen zu erreichen. Angesicht der fortschreitenden Digitalisierung werden zahlreiche Arbeitsplätze bzw. Tätigkeiten rationalisierbar.

      Gerade im Hinblick auf soziale Nachhaltigkeit rückt eine weitere Inkohärenz ins Blickfeld: Die Wachstumsideologie, die dem Vollbeschäftigungsziel zugrunde liegt, erzeugt Überproduktion und Überkonsum, der zu klimabelastendem Ressourcenverbrauch führt. Hier wirft also die Sicherung der materiellen Reproduktion Fragen zur nachhaltigen Gesellschaftsgestaltung auf. Die feministische Wachstumskritik setzt ebenfalls an diesem Punkt an (vgl. zur Vertiefung Schmelzer/Vetter 2019, S. 111-120).

    • Reflexionsfrage

      In Anbetracht all des Vorangegangenen: Was kann die oder zumindest eine Lösung sein?

      Wir wollen einer möglichen Antwort in der folgenden Lektion nachgehen.

    • Literatur und Quellen

      • Dingeldey, Irene (2006): Aktivierender Wohlfahrtsstaat und sozialpolitische Steuerung. APuZ 8/9, (S. 3–9).
      • Fischer, Ute Luise (2009): Anerkennung, Integration und Geschlecht – zur Sinnstiftung des modernen Subjekts. Bielefeld: transcript-Verlag.
      • Schmelzer, Matthias/Vetter, Andrea (2019): Degrowth/Postwachstum – zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag.