Kurs: Der menschengemachte Klimawandel: Ursachen, Effekte und Lösungswege | OnCourse UB

  • Lektion 4

    • Dimensionen und Ziele sozialer Nachhaltigkeit


      Worum geht es in dieser Lektion?

      Die in Lektion 3 beschriebenen Handlungsprobleme, vor die uns die dreifache Reproduktion stellt, müssen für die Verbindung zur sozialen Nachhaltigkeit noch genauer gefasst werden. Soziale Nachhaltigkeit ist im Zukunftsdiskurs um die Bewältigung akuter Krisen - wie insbesondere der Klimawandel und seine Auswirkungen auf Armut, Hunger, Ungleichheit, Flucht u.v.m. - noch wenig definiert. In dieser Lektion wollen wir uns die Ansätze anschauen, die es zur Lösung aktuell gibt.


      Michael Opielka, deutscher Sozialwissenschaftler und Hochschullehrer, schlägt vor, zwischen drei Konzeptionen zu unterscheiden:


    • Als Soziologe interessiert Opielka v.a. das weite Verständnis (siehe dritte Konzeption), verspricht er sich von dieser dritten Konzeption doch nichts Geringeres als die Entstehung eines „Öko-Wohlfahrtsregimes“ (ebd., S. 39). So wie die Rolle der Soziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die soziale Frage befeuerte, aus der der Wohlfahrtsstaat erwuchs, könnte ihre Rolle – so Opielkas Hoffnung – in einem Zukunftsdiskurs um soziale Nachhaltigkeit sein, die ökosoziale Frage zu befeuern.

      Das oben eingeführte Modell von sozialer Nachhaltigkeit als Gelingen der dreifachen Reproduktion im Sinne einer zukunftsfähigen und kohärenten Gesellschaft liegt quer zu Opielkas Angebot.


      Das Modell baut sich wie folgt auf:

      • Erstens behandelt es Themen der Gerechtigkeit und Umverteilung im Sinne der bewährten Deutungsmuster.
      • Zweitens schließen diese Deutungsmuster sozialpolitische Gestaltungen mit ein.
      • Drittens wirken diese Deutungsmuster transformativ, wenn Inkohärenzen das gegenwärtige Arrangement die gültige Anerkennungsordnung an ihre Grenze kommen lassen.

      Freilich kann nicht ein Modell das bestehende Arrangement zu Fall bringen, sondern es kann nur auf notwendige und mögliche Krisenlösungen hinweisen. Letztlich sind es zivilgesellschaftliche Arenen, auf denen Bürger:innen ihre Stimme erheben, Projekte nachhaltiger Lebensformen in Gang setzen und bei hinreichend politischen Kräfteverhältnissen schließlich neue, konsistente Bewährungsmythen ebenso wie neue sozialpolitische Rahmenbedingungen anstoßen.


    • Konkrete Dimensionen für die soziale Nachhaltigkeit

      Konkrete Dimensionen lassen sich in den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (2022) finden. Unter den 17 Sustainable Development Goals (SDGs) erscheinen die folgenden für die soziale Nachhaltigkeit besonders relevant, wie auch Hexel (2017, S. 89f.) argumentiert.






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    • Wohlergehen statt Wertschöpfung

      Im neusten Bericht an den Club of Rome „Earth for all“ (2022) schlagen die Autor*innen den Indikator Wohlergehen als Alternative und Ergänzung zum bisher meist verwendeten Fortschrittsindikator Wertschöpfung vor, die sich rein ökonomisch bemisst.

      In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wird in Deutschland das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zugrunde gelegt, das die Produktionen eines Kalenderjahres in Marktpreisen zusammenfasst. Die Kritik daran ist schon alt und entzündet sich vornehmlich an der Unstimmigkeit der bemessenen Leistungen.


      Beispiel: Kritik am BIP

      Zum Beispiel geht Umweltzerstörung positiv in die Bruttoinlandsprodukt-Bilanz ein, wenn etwa Kosten entstehen zur Wiederherstellung vergifteter Böden oder durch Klimawandel erodierter Berghänge.

      Auch der so genannte Postwachstumsdiskurs (vgl. zur Einführung Schmelzer/Vetter 2019) übt Kritik am Wirtschaftswachstum als modernes Leitmotiv für Fortschritt und Wohlstand und bemängelt, dass dieses die Zerstörung ökologischer und sozialer Grundlagen ebenso wie die zugrundeliegenden globalen Ausbeutungsverhältnisse ausblendet.

    • Was heißt nun aber „Wohlergehen“?

      Unter Wohlergehen versteht der Bericht „Earth for all“ (2022, S. 48ff.) eine Reihe von Qualitätskriterien, die ein zufriedenes Leben ausmachen. Darin steckt der Grundgedanke der Suffizienz, der neben Konsistenz und Effizienz als dritte Nachhaltigkeitsstrategie in der Debatte behandelt wird (vgl. Opielka 2016, S. 35).


      Wichtig

      Konsistenz – Effizienz – Suffizienz

      Konsistenz: fokussiert die ökologische Angemessenheit des Handelns.

      Effizienz: bezieht sich auf ökonomische Entscheidungsmuster.

      Suffizienz: adressiert die sozialen Aspekte des Dreisäulenmodells der ökologischen, ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeit.

      Weitere Erläuterungen der drei Nachhaltigkeitsstrategien finden Sie z.B. hier. https://www.bund-bawue.de/themen/mensch-umwelt/nachhaltigkeit/nachhaltigkeitsstrategien/



    • An den gewählten Kriterien lassen sich die Schwierigkeiten erahnen, die sich bei der Aufgabe stellen, soziale Nachhaltigkeit operationalisierbar und konkret messbar zu machen.


      Wo wird es schwierig?

      Als diskussionswürdig dürfen z.B. die folgenden Aspekte betrachtet werden:

      • Die Operationalisierung von Teilhabe allein über Erwerbsbeteiligung. (Diesen Aspekt wollen wir darum in den folgenden Lektionen weiter aufgreifen.)  
      • Auch im internationalen Vergleich sind diese Standards interpretationswürdig. So hat zum Beispiel der Temperaturanstieg in ohnehin von Dürre heimgesuchten Regionen verheerendere Folgen als in Regionen mit gemäßigterem Klima.
      • Die globalen Wechselwirkungen zwischen den reichen, den Weltmarkt beherrschenden Ländern mit ihrem Überkonsum und den abhängigen Ökonomien des globalen Südens werfen Schwierigkeiten auf, sie in einem quantifizierenden Maßstab sozialer Nachhaltigkeit abzubilden.

      Kehren wir stattdessen zurück zum Modell der dreifachen Reproduktion: Versuchen wir, aus den skizzierten Merkmalen, Dimensionen und Zielen einen Maßstab für das Gelingen oder Scheitern von Kohärenz in einer auf soziale Nachhaltigkeit und Wohlergehen des Einzelnen zielenden Gesellschaft zu entdecken. Dazu richten wir in der folgenden Lektion den Fokus auf sozialpolitische Rahmenbedingungen als zentrales Politikfeld sozialer Nachhaltigkeit und schränken dadurch die Perspektive auf den Nationalstaat ein.

    • Literatur und Quellen

      • Bundesregierung (2021): Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Weiterentwicklung 2021. www.deutsche-nachhaltigkeitsstrategie.de (zuletzt 8.8.2023)
      • Club of Rome (Hrsg.) (2022): Earth for All. Ein Survivalguide für unseren Planeten. Der neue Bericht an den Club of Rome, 50 Jahre nach »Die Grenzen des Wachstums«. München: oekom.
      • Der Paritätische Gesamtverband (Hg.) (2023): Zwischen Pandemie und Inflation. Paritätischer Armutsbericht 2022. www.der-paritaetische.de/armutsbericht (zuletzt 7.8.2023)
      • Hexel, Dietmar (2017): Eine soziale Perspektive auf die Nachhaltigkeitsstrategie. In: Michelsen, Gerd (Hrsg.): Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Wegweiser für eine Politik der Nachhaltigkeit. Hessische Landeszentrale für politische Bildung. Wiesbaden, S. 83-106.
      • Opielka, Michael (2016): Soziale Nachhaltigkeit aus soziologischer Sicht. In Soziologie, Heft 1/20016, S. 33-46.
      • Schmelzer, Matthias/Vetter, Andrea (2019): Degrowth/Postwachstum – zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag.
      • Vereinte Nationen (2022): Ziele für nachhaltige Entwicklung – Bericht 2022. https://www.un.org/Depts/german/millennium/SDG-2022-DEU.pdf (zuletzt 13.7.2023)
      • Wilkinson, Richard/Pickett, Kate (2022): From inequality to sustainability. Earst4all: Deep-dive Paper 01. https://www.clubofrome.org/wp-content/uploads/2022/05/Earth4All_Deep_Dive_Wilkinson_Pickett.pdf (zuletzt 15.7.2023)