Kurs: Der menschengemachte Klimawandel: Ursachen, Effekte und Lösungswege | OnCourse UB

  • Lektion 3

    • Handlung, Deutung und Sinnstiftung


      Worum geht es in dieser Lektion?

      Mit der dreifachen Reproduktion haben wir in Lektion 2 ein Konzept von Gesellschaft kennengelernt, das wir nun im Hinblick auf die Funktionen und Wirkungsweisen der drei Bereiche weiter ausführen können. Darum soll es in dieser Lektion gehen. Diese Vertiefung wird uns anschließend zu einem besseren Verständnis von nachhaltigem Handeln verhelfen.




      Folgt man auch hier dem Soziologen Oevermann (1995) und seiner Bewährungstheorie, dann führen Tätigkeiten in den Bereichen der dreifachen Reproduktion (Familie, Zivilgesellschaft, Arbeit) zur Erfahrung von Lebenssinn. Seine Begründung lautet: Gerade in der grundlegenden Bedeutung, die die drei Bereiche für die Reproduktion der Gesellschaft haben, liegt ihr sinnstiftendes Potenzial. Es ist eben nicht gleichgültig, ob wir Angehörige pflegen, einem Beruf nachgehen oder in der Nachbarschaftshilfe engagiert sind. Die Welt wird durch diese Handlungen eine andere, hier am Maßstab der Reproduktion gemessen: eine bessere. Darin liegt die Erfahrung von Sinn (siehe ausführlicher Fischer 2015).


      Reflexionsfrage

      Wenn Sie an die drei Bereiche aus Oevermanns Bewährungstheorie denken – also Familie, Zivilgesellschaft und Arbeit -, auf welchen Bereich würden Sie den meisten Wert legen? Welcher Bereich ist Ihnen am wichtigsten oder verleiht Ihnen am meisten Lebenssinn?

    • Vertiefung

      Overmanns Argumentation in Detail 


      In Langfassung beginnt Oevermanns Argumentation mit der Besonderheit der Gattung Mensch, die in ihrer Sprachfähigkeit besteht. Durch Sprache können wir zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden und somit auch hypothetische Alternativen für die eigene Situation und die eigenen zu treffenden Entscheidungen entwerfen. Dadurch eröffnet sich ein Spielraum an Handlungsmöglichkeiten. Wir können etwas so oder anders machen, wir können etwas unterlassen oder auf später verschieben. Jeder Mensch bildet seine Einzigartigkeit aus der Summe der vergangenen Erfahrungen. So kann er sich seiner Herkunft vergewissern, indem er sich fragt: Wer bin ich geworden, wo ich auch ein anderer hätte werden können? Zugleich verlangt jede Entscheidung einen Entwurf seines Selbst in die Zukunft, und er fragt sich: Wohin gehe ich? Welches sind die Gründe, welches die nicht absehbaren Folgen meiner Entscheidung?

      All dies geschieht an jeder Entscheidungsstelle im Kleinen wie im Großen: z.B. ob ich die nächste Vorlesung besuche, ob ich dorthin lieber mit dem Fahrrad oder der U-Bahn fahre, aber auch, ob ich eine Familie gründen möchte und mit wem usw. Nicht immer sind uns diese Entscheidungen und ihre Begründungen bewusst. Vor allem die kleineren, alltäglichen treffen wir häufig anhand von bewährten Routinen nach dem Motto: Bei gutem Wetter nehme ich das Fahrrad. Solche Routinen entlasten den Handelnden, weil sie nicht jedes Mal neu bedacht werden müssen.

      Funktionieren die bisherigen Routinen jedoch nicht (z.B. ist das Wetter schlecht, aber die U-Bahn ist defekt) oder treten neue Handlungsanforderungen auf (z.B. die Vorlesung entfällt, die Inhalte müssen eigenständig erarbeitet werden), liegt eine Krise vor. Damit meint Oevermann ganz unspektakulär eine offene, echte Entscheidungssituation, für die noch keine Routine zur Verfügung steht.

      Krisenhaft ist zudem der Umstand, dass sich die zu treffende Entscheidung erst im Nachhinein als bewährt oder gescheitert erweisen wird. Man muss sie treffen in dem Glauben, dass es die richtige Entscheidung ist. Und sie muss auch mit dem Anspruch auf Begründbarkeit getroffen werden, obwohl die Begründung noch gar nicht gegeben werden kann.

      Diese Lücke zwischen dem jetzigen Handeln und seiner nachträglichen Begründung und Bewährung führt zu Handlungs- und Rechtfertigungsdruck. Um diese Lücke zu überbrücken, greifen wir auf Deutungsmuster zurück. Sie stellen „krisenbewältigende Routinen“ dar, „die sich in langer Bewährung eingeschliffen haben und wie implizite Theorien verselbständigt operieren, ohne dass jeweils ihre Geltung neu bedacht werden muss“ (Oevermann 2001, S. 38).

      Der Handlungsdruck wird durch das Bewusstsein von der Endlichkeit des eigenen Lebens zusätzlich verstärkt. Mit der Endlichkeit des Diesseits konfrontiert, erhebt sich die Frage nach der Hoffnung auf Erlösung oder soziologisch ausgedrückt: auf Bewährung. In der Begründungsnot sucht der Einzelne nach Anhaltspunkten dafür, ob das eigene Leben dabei ist zu gelingen. Diese Spannung lässt sich nicht still stellen und wird daher als „Bewährungsdynamik“ (Oevermann 1995) bezeichnet. Denn weder kann man an irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens endgültig seine Bewährtheit konstatieren, etwa in der Feststellung: „berühmt bin ich nun“. Denn dies wäre gleichbedeutend damit, fortan die prinzipielle Offenheit der Zukunft und die immer wieder kehrende Entscheidungsnotwendigkeit zu leugnen. Noch kann man den Zeitpunkt des eigenen Todes vorhersehen, so dass sich in prinzipiell allen Situationen das bis dahin gelebte Leben als gelingend erweisen muss, da man nicht weiß, wie viel Zeit für die Realisierung noch bleibt.

      Um den Schrecken der Endlichkeit der eigenen Existenz und die Ungewissheit der Bewährung auszuhalten, benötigt der konkrete diesseitige Mensch einen existenziellen Mythos, wie er in allen Kulturen zu finden ist. Der Bewährungsmythos hat die Funktion, die Existenzfragen

      • Wer bin ich?
      • Woher komme ich?
      • Wohin gehe ich?

      zu bearbeiten und dadurch eine Antwort auf die Sinnfrage zu geben. Der Mythos verbürgt also kollektive Anerkennung der individuellen Bestrebungen, denn ein „privater“ Mythos ist nicht vorstellbar. Er benötigt die gemeinschaftliche Vergewisserung der Gültigkeit der Kriterien, nach denen der Lebensentwurf und die Entscheidungen darin anerkannt werden. Waren es über die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte religiös gestiftete Glaubenssysteme, ist in der säkularisierten Welt eine verallgemeinerte Anerkennungsordnung an dessen Stelle getreten. Oben wurde bereits deutlich, dass die moderne, auf den Beruf bezogene Leistungsethik hier immer noch führend ist.

      Ist die Leistungsethik eine kohärente Lösung?

      Damit ist die Frage aufgeworfen, ob die Leistungsethik eine kohärente Lösung für sowohl eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft darstellen kann als auch für die Handlungsorientierungen des Einzelnen. Stiftet sie also passende Deutungsmuster für die Lösung der dreifachen Reproduktion? Für die Antwort auf diese Frage muss soziale Nachhaltigkeit noch genauer gefasst werden. Dazu bietet sich ein Blick auf die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (2022) an, aber auch auf den neusten Bericht an den Club of Rome (2022), mit dem wir uns in der nächsten Lektion noch befassen werden. Wenn die Qualität sozialer Nachhaltigkeit konkreter beschrieben ist, können wir daraus Schlüsse ziehen über einen geeigneten sozialpolitischen Rahmen des Handelns.

    • Literatur und Quellen

      • Club of Rome (Hrsg.) (2022): Earth for All. Ein Survivalguide für unseren Planeten. Der neue Berichtan den Club of Rome, 50 Jahre nach »Die Grenzen des Wachstums«. München: oekom.
      • Fischer, Ute (2015): Sinn braucht ein Fundament – Überlegungen zur Struktur der Anerkennung. In: ARBEIT, Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik, Heft 1-2/2015, S. 87-104.
      • Oevermann, Ulrich (1995): Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Modell von Lebenspraxis und von sozialer Zeit. In M. Wohlraab-Saar (Hrsg.): Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche Frankfurt a. M.: Campus, S. 27–102.
      • Oevermann, Ulrich (2001): Die Struktur sozialer Deutungsmuster – Versuch einer Aktualisierung. Sozialer Sinn, 2. Jg., Heft 1, S. 35–81.
      • Vereinte Nationen (2022): Ziele für nachhaltige Entwicklung – Bericht 2022. https://www.un.org/Depts/german/millennium/SDG-2022-DEU.pdf (zuletzt 13.7.2023)