All dies geschieht an jeder
Entscheidungsstelle im Kleinen wie im Großen: z.B. ob ich die nächste Vorlesung
besuche, ob ich dorthin lieber mit dem Fahrrad oder der U-Bahn fahre, aber
auch, ob ich eine Familie gründen möchte und mit wem usw. Nicht immer sind uns
diese Entscheidungen und ihre Begründungen bewusst. Vor allem die kleineren,
alltäglichen treffen wir häufig anhand von bewährten Routinen nach dem
Motto: Bei gutem Wetter nehme ich das Fahrrad. Solche Routinen entlasten den
Handelnden, weil sie nicht jedes Mal neu bedacht werden müssen.
Funktionieren die bisherigen
Routinen jedoch nicht (z.B. ist das Wetter schlecht, aber die U-Bahn ist defekt)
oder treten neue Handlungsanforderungen auf (z.B. die Vorlesung entfällt, die
Inhalte müssen eigenständig erarbeitet werden), liegt eine Krise vor.
Damit meint Oevermann ganz unspektakulär eine offene, echte
Entscheidungssituation, für die noch keine Routine zur Verfügung steht.
Krisenhaft ist zudem der Umstand,
dass sich die zu treffende Entscheidung erst im Nachhinein als bewährt oder
gescheitert erweisen wird. Man muss sie treffen in dem Glauben, dass es die
richtige Entscheidung ist. Und sie muss auch mit dem Anspruch auf
Begründbarkeit getroffen werden, obwohl die Begründung noch gar nicht gegeben
werden kann.
Diese Lücke zwischen dem jetzigen
Handeln und seiner nachträglichen Begründung und Bewährung führt zu Handlungs-
und Rechtfertigungsdruck. Um diese Lücke zu überbrücken, greifen wir auf Deutungsmuster
zurück. Sie stellen „krisenbewältigende Routinen“ dar, „die sich in langer
Bewährung eingeschliffen haben und wie implizite Theorien verselbständigt
operieren, ohne dass jeweils ihre Geltung neu bedacht werden muss“ (Oevermann
2001, S. 38).