Kurs: Der menschengemachte Klimawandel: Ursachen, Effekte und Lösungswege | OnCourse UB

  • Lektion 2

    • Soziale Nachhaltigkeit als gelingende Gesellschaftsentwicklung


      Worum geht es in dieser Lektion?

      Soll sich eine Gesellschaft nachhaltig entwickeln, steht eine zentrale Frage im Raum:

      Was braucht sie grundsätzlich, um sich zu erhalten und zu entfalten?

      Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von „Reproduktion“. Der Antwort auf diese Frage gehen wir in dieser Lektion nach.

      Zur ersten Annäherung nutzen wir ein einfaches Gesellschaftmodell. Es ist vom deutschen Soziologen und Hochschullehrer Ulrich Oevermann (1995) mit Bezug auf Hegel entwickelt worden (vgl. ausführlich auch Fischer 2009, S. 38ff.). Demnach muss eine jede Gesellschaft drei Aufgaben lösen, die soziologisch auch Handlungsprobleme genannt werden:

    • Diese dreifache Reproduktion zu meistern ist eine Aufgabe, die grundsätzlich für alle Gesellschaften aller Zeiten und Kulturen besteht. Allein ihre Lösungsformen unterscheiden sich je nach Epoche und (Welt-)Region. So gilt für die westliche Welt – bei allen Differenzen im Einzelnen – Folgendes:

    • Alle drei Bereiche unterliegen einem erheblichen Wandel. Dieser Wandel steht im Zusammenhang mit Klimaschutz und Nachhaltigkeit, denn die jeweilige Lebensweise (mit Konsumgewohnheiten und Produktions- sowie Distributionswegen) bestimmt den Ressourcenverbrauch und die ökologische Belastung. In Lektion 4 dieses Kapitels werden wir uns noch genauer mit den Nachhaltigkeitszielen der UN beschäftigten. Doch schon an dieser Stelle können wir festhalten, dass die Debatte über Konsum- und Produktionsmuster auch Fragen von

      • Gerechtigkeit,
      • sozialer Ungleichheit und
      • Armutsbekämpfung berührt.

      Wie sind nun die Bereiche Familie, Zivilgesellschaft und Arbeit vom Wandel betroffen?

      Familien

        

       


      Zivilgesellschaft

       

       


      Arbeit

        


      Sollen Sie Probleme beim Hören der Audiospuren haben oder einfach lieber Lesen als Hören, finden Sie die Audiospuren hier noch einmal zum Nachlesen.
    • Fürsorge-Tätigkeiten (Care)

      Für das Verständnis der modernen Gesellschaft ist es unumgänglich, auch die Fürsorge-Tätigkeiten zu berücksichtigen, die sich ebenfalls in den letzten Jahrzehnten stark verändert haben, nicht zuletzt angetrieben durch den demografischen Wandel und der damit einhergehenden Alterung der Gesellschaft. Unter dem Begriff Care werden vielfältige Fürsorge-Tätigkeiten zusammengefasst, die zur Grundstruktur menschlichen Daseins gehören.


      Zitat

      In einem weiten Verständnis von Fürsorge fasst Brückner unter familialer und beruflicher Sorgearbeit „pflegende, erziehende und betreuende Sorgetätigkeiten im Lebenszyklus (Kinder, pflegebedürftige und alte Menschen) sowie personenbezogene Hilfen in besonderen Lebenslagen (von Arbeitslosigkeit über häusliche Gewalt bis Wohnungslosigkeit)“.

      Brückner (2018, S. 212)

      Fürsorge-Tätigkeiten sind keine individuelle Angelegenheit allein und finden sich in allen drei Gesellschaftsbereichen:


    • Sind alle Bereiche gleich viel wert?

      Wir sind es gewohnt, die materielle Reproduktion in Form der ökonomischen Leistungen als wichtigstes Feld zu betrachten, weil es den gegenwärtigen Diskurs scheinbar alternativlos durchzieht. Auf dieser Überzeugung haben wir unser soziales Sicherungssystem aufgebaut (dazu werden wir in Lektion 5 noch mehr erfahren) und so hat es sich auch als Leitlinie in unsere Lebensentwürfe eingeschrieben. Wird man zum Beispiel auf einer Party darauf angesprochen, was man mache, antwortet man wie selbstverständlich mit seinem Beruf.


      Systematisch aber basiert die Annahme der herausgehobenen Bedeutung der Erwerbsarbeit auf einem doppelten Irrtum: Denn…

      • erstens sind alle drei Bereiche gleichwertig in ihrer Bedeutsamkeit für die Reproduktion.
      • zweitens kann man sogar von einer asymmetrischen Gleichwertigkeit sprechen im Hinblick darauf, welche Bedingungen die Bereiche bereitstellen, um Handeln überhaupt zu ermöglichen, also hinsichtlich ihrer konstitutiven Stellung.

      Aus dieser Perspektive erweist sich die Sphäre der ökonomisch vermittelten Arbeitsleistung als nachgeordnet gegenüber familiären und gemeinwohlbezogenen Tätigkeiten. Denn Familien und Beiträge zum Gemeinwesen gehen der ökonomischen Wohlstandsproduktion voraus.

      Arbeitsleistung und Wertschöpfung setzen Menschen voraus, die es gelernt haben, sich im sozialen Feld zu bewegen, eine Idee von Leistung und Wert erfahren sowie sich notwendige Qualifikationen angeeignet haben und sich an das Gemeinwesen binden können, indem sie Verantwortung empfinden und Solidarität üben.

      Solche Entwicklungswege jedes Einzelnen beruhen auf einem funktionierenden Gemeinwesen und auf Familien, in denen Kinder Vertrauen entwickeln und sich bedingungslos angenommen fühlen.

      Und was ist jetzt mit der Kohärenz? Und was ist damit überhaupt gemeint?

      Wenn man dieser Argumentation folgt, stellt sich sofort die Frage, wie denn nun gewährleistet werden kann, dass die Handlungsentscheidungen der Individuen den Erfordernissen einer gesellschaftlich nachhaltigen Entwicklung entsprechen. Diese Entsprechung lässt sich auch als Kohärenz bezeichnen.


      Wichtig

      Die Antwort lautet:

      Kohärenz stellt sich her, wenn die Handlungsbedingungen sowie die Werte und Überzeugungen der Individuen zu den gesellschaftlichen Anforderungen passen.

      Wir müssen uns also mit diesen Handlungsbedingungen und Überzeugungen befassen und werden darüber dann später zu den nötigen und möglichen Änderungen kommen für eine Stärkung sozialer Nachhaltigkeit. Doch zunächst noch einmal zurück zum Strukturmodell von Gesellschaft für einen tieferen Blick auf das Wechselverhältnis zwischen Struktur und Handeln. Damit wird dann auch die in der Abbildung noch enthaltene Sinnstiftung erläutert.


    • Literatur und Quellen

      • BMfFSFJ (Hrsg.) (2012): Erster Engagementbericht 2012. Für eine Kultur der Mitverantwortung. https://www.bmfsfj.de/blob/95974/83e466a03c73974e64af753f7b4de507/engagementmonitor-2012-erster-engagement bericht-2012-data.pdf (zuletzt 10.7.2023)
      • Brückner, Margrit (2018): Care – Sorgen als sozialpolitische Aufgabe und als soziale Praxis. In H.-U. Otto, H. Thiersch, R. Treptow & H. Ziegler (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit. München: Ernst Rheinhardt, S. 212–218.
      • Enquete-Kommission "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements", Deutscher Bundestag (2002): Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Opladen.
      • Fischer, Ute Luise (2009): Anerkennung, Integration und Geschlecht – zur Sinnstiftung des modernen Subjekts. Bielefeld: transcript-Verlag.
      • Helfrich, Silke/Bollier, David (2020): Frei, fair und lebendig – die Macht der Commons. Bielefeld: transcript. https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/53/b6/f8/oa9783839455746.pdf (zuletzt 7.8.2023)
      • Hexel, Dietmar (2017): Eine soziale Perspektive auf die Nachhaltigkeitsstrategie. In: Michelsen, Gerd (Hrsg.): Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Wegweiser für eine Politik der Nachhaltigkeit. Hessische Landeszentrale für politische Bildung. Wiesbaden, S. 83-106.
      • Lange, Katrin (2022): Gleichstellung von Regenbogenfamilien – Handlungserfordernisse und Lösungsansätze in Deutschland sowie Einblicke in andere europäische Staaten. Arbeitspapier Nr. 23 der Beobachtungsstelle für gesellschaftspolitische Entwicklungen in Europa. https://beobachtungsstelle-gesellschaftspolitik.de/f/8818af2f0b.pdf (zuletzt 10.7.2023)
      • Oevermann, Ulrich (1995): Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Modell von Lebenspraxis und von sozialer Zeit. In M. Wohlraab-Saar (Hrsg.): Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche Frankfurt a. M.: Campus, S. 27–102.
      • Simonson, Julia, Claudia Vogel und Clemens Tesch-Römer (Hrsg.) (2016): Freiwilliges Engagement in Deutschland – Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Wiesbaden: Springer VS.
      • Steinbach, Anja (2017): Mutter, Vater, Kind: Was heißt Familie heute? In: APuZ 30-31/2017, S. 4-8