Kurs: Systemdenken und Nachhaltigkeit in Virtual Reality | OnCourse UB

  • Lektion 2

    Keine Armut in Deutschland (?)


    • Lern-/Erkundungsziel von Lektion 2:

      In dieser Lektion wird das Oberziel des SDG 1 „Keine Armut“ auf Deutschland angewendet. Ab wann gilt ein Mensch in Deutschland als arm? Sie erhalten die maßgeblichen Zahlen, Daten und Fakten für Armut in Deutschland. Außerdem lernen sie neben der statischen Armut die dynamische Betrachtung von Armut kennen.















      @pexels - kostenlose Nutzung
    • „Die globale Armut muss beendet werden“. Welche Bilder entstehen, wenn Sie an die globale Armut denken? Vermutlich ist es häufig ein Bild des globalen Südens – Armut ist insofern die absolute Knappheit von Wasser, Nahrung, Wohnraum und Bildung (um nur einiges aufzuführen). Dies ist eine Art der extremen Armut. Innerhalb dieser extremen Armut mangelt es so sehr an Ressourcen, dass die Grundbedürfnisse der betroffenen Menschen nicht gedeckt werden können. Eine derartige Ausprägung von Armut wurde in der vorherigen Lektion bereits als absolute Armut eingeführt. Absolute Armut ist in Deutschland eher geringfügig vertreten – der Sozialstaat sorgt im Optimalfall dafür, dass zumindest die Grundbedürfnisse gedeckt werden können.














      @pexels - kostenlose Nutzung

      Wenn es demzufolge kaum arme Menschen in Deutschland gäbe, dann bräuchte es neben dem absoluten Armutsbegriff noch die relative Armut – relativ zu den „Gewohnheiten des Landes“, wie Adam Smith es bezeichnet. Insofern hieße das, dass arm sein in jedem Land anders aussehen kann. Wer in Deutschland (einem relativ reichen Land) arm ist, wird möglicherweise in einem anderen (relativen armen) Land als reich angesehen. Nur um eine Einschätzung dafür zu erlangen, was die absolute Armut für Deutschland bedeutet, können Sie gern das folgende Ratespiel nutzen. Denken Sie daran: Die absolute Armutsgrenze wurde international festgelegt auf 2,15 USD pro Tag - dies wird angelegt um die absolute Armut der Menschen innerhalb eines bestimmten Landes zu beurteilen.


    • Wer gilt in Deutschland als arm?

      Wie sieht es konkret in Deutschland aus? Ab wann gelten wir in Deutschland eigentlich als arm? Aus einer finanziellen Sicht gilt eine alleinlebende Person in Deutschland als arm, wenn sie weniger als 60% des Durchschnittseinkommens verdient – das wäre beispielsweise ab einem Netto-Jahresgehalt von 15.009€ der Fall (Stand: 2021). 

      Das heißt, sobald eine Person monatlich weniger als 1.250,75€ verdient, gilt sie per EU-Definition als arm.

      Dies ist ein signifikanter Unterschied - 2,15 USD pro Tag (absolute Armutsgrenze) verglichen mit der relativen Armutsschwelle in Deutschland, welche umgerechnet ca. bei 42,- EUR pro Tag liegt. Wer in Deutschland also mit weniger als 42,- EUR am Tag (1.250,75 EUR im Monat) auskommen muss, gilt als arm. Somit beispielsweise auch der Großteil der Bürgergeldempfänger:innen (monatlicher Satz für Alleinstehende: 563,- € - es stehen ca. 18€ pro Tag zur Verfügung, sofern das Jobcenter die Miete zahlt) Wer nicht unmittelbar als arm gilt, kann aber sehr wohl von Armut bedroht sein. In Deutschland sind rund 13 Millionen Menschen von Armut bedroht (Stand 2021). Einige Statusgruppen scheinen insbesondere von Armut bedroht zu sein, dazu gehören: Alleinerziehende, Beschäftige im Niedriglohnsektor, Renter:innen, Menschen mit Migrationshintergrund und Familien mit mehr als zwei Kindern (bei niedrigem Bildungsabschluss der Eltern). Es kann außerdem beobachtet werden, dass Frauen marginal eher von Armut bedroht sind. Alleinerziehende Frauen sind häufig aufgrund fehlender Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten gezwungen, ihre Jobzeiten zu reduzieren. Sind Frauen in einer Paarbeziehung und müssen ihre zwecks Kinderbetreuung ihre berufliche Tätigkeit unterbrechen, sind sie statistisch gesehen auch hier stärker armutsgefährdet als die männlichen Partner.

    • Also..?

      Wir halten zunächst fest: Gewisse Faktoren bedingen anscheinend die Wahrscheinlichkeit der Armutsgefährdung in Deutschland – auch Diskriminierung spielt hierbei eine Rolle. Das wäre folgende Logik: Gewisse Statusgruppen sind stärker betroffen als andere Statusgruppen. So gesehen müssten wir nur Glück oder Pech haben, in eine gewisse Statusgruppe geboren zu werden und somit betroffen oder eben nicht betroffen zu sein. Das ist ein gewissermaßen statisches Armutsverständnis. Es gibt Hinweise darauf, dass Armut kein statisches, sondern ein dynamisches Phänomen ist – Armut als Bewegung. Wie aber könnte diese Bewegung aussehen?
















    • @generiert mithilfe der Firefly-KI

      Statische Armut (Teufelskreis)

      Bevor auf die Armut als dynamische Bewegung eingegangen wird, soll betrachtet werden, warum es ebenso legitim ist, die Armut statisch zu verstehen. Die statische Armut zu verstehen und anzuerkennen ist wichtig, weil sonst müsste die Aufforderung für jeden armen Menschen sein: „Beweg dich doch aus deiner Armut heraus“. In vielen Fällen ist die Faktenlage so, dass es eben nicht so einfach ist. Es gibt viele Faktoren, die dafür sorgen, dass eine Armut auch bestehen bleibt, wenn sie erst einmal eingetreten ist. Hierbei spielt die Dynamik des Teufelskreises eine entscheidende Rolle.

      Viele Kinder werden in die relative Armut hineingeboren. Etwa 16% aller Kinder in Deutschland sind hiervon betroffen (Stand 2021). Hier setzt der Teufelskreis bereits an, weil gerade im Kindheitsalter viele Verhaltensweisen und Bedeutungsperspektiven der Eltern übernommen werden. Es wird angenommen, dass Menschen, die im Kindheitsalter arm sind, auch im Erwachsenenalter arm bleiben. Armut in der Kindheit (wie auch im Erwachsenenalter) geht mit erschwerten sozialen Rahmenbedingungen einher. So entstehen beispielsweise soziale Ungleichheiten, die sich früher oder später vermutlich oft auch auf die Bildungsmöglichkeiten bzw. Bildungsabschlüsse niederschlagen. Das sorgt in der Regel dafür, dass die Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sinken. In so einem Fall könnte es sein, dass sich Kinder auf die Verhaltensmuster oder Beobachtungen der Eltern zurückgegriffen wird und es zu einer erlernten Hilflosigkeit kommt – welche wiederum eine weitgehend dauerhafte Abhängigkeit von Sozialleistungen zur Folge hat. Der Teufelskreis könnte (zugespitzt) folgendermaßen formuliert werden:


      Die negativen Glaubensätze des Teufelskreises anzeigen (Triggerwarnung)
      • Mir steht immer weniger Geld zur Verfügung (Einkommen wird immer geringer)
      • Ich werde immer „dümmer“ / ich kann immer weniger (immer weniger Bildung/Qualifizierung)
      • Ich werde immer „kranker“ (mentale und physische Gesundheit wird in Mitleidenschaft gezogen)

       

      Wenn man sich diese Glaubenssätze anhört, wird klar, warum Armut etwas Statisches sein könnte. Der einzige Ausweg geht oftmals über die Übernahme von (evtl. mehreren) Niedriglohnjobs. Diese stellen aber nicht den direkten und sicheren Ausweg aus der Armut dar – der Weg ist unangenehm und hinterher ist man sogar weiterhin akut von Armut bedroht. In diesem Szenario muss sich eventuell sogar folgende Frage gestellt werden: Was ist komfortabler? Relative Armut durch Sozialbezüge oder drohende Armut trotz (anstrengender) Niedriglohnarbeit? Dazu kommt, dass solche Entscheidungen häufig nicht individuell, sondern im Familienverbund getroffen werden (müssen). Innerhalb dieser statischen Armut ist es nicht nur so, dass ein individueller Mensch über seine Lebensphasen hinweg arm bleibt, sondern diese Armut wird an die nächste Generation „weitervererbt“. Wir sprechen dann von einer intergenerationellen Armut.

      Das dem nicht immer so ist zeigen Erkenntnisse aus der Wissenschaft. Demzufolge verharrt nur ein relativ geringer Anteil von Menschen dauerhaft in einem Einkommensbereich. Die individuelle Betrachtung eines Einkommens einer spezifischen Person über einen längeren Zeitraum hinweg bezeichnet man dann als intragenerationale Einkommensmobilität. Einige Menschen verharren dennoch über Generationen hinweg in ihrem Armutsstatus, was wiederrum einige Gründe haben mag - andererseits gibt das Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft Anlass zur Hoffnung auf einen dynamischen Sprung aus der Armut heraus. In Hinblick auf die Verwobenheit eines individuellen Menschen in ihrem:seinem Familiensystem bedeutet dies auch: Wie kann ein Sprung aus einer intergenerationalen Armut gelingen? Trotz aller hemmenden Kräfte, die womöglich einwirken.



    • @generiert mithilfe der Midjourney-KI


      Dynamische Armut (Armut als Bewegung)
      Wenn es um die Bewegung in die Armut hinein oder aus der Armut heraus geht, geht es in der Regel auch um den Teilhabe an der Erwerbsarbeit. Fällt der Arbeitsplatz überraschend weg, landet die Person über den Bezug von Arbeitslosengeld I (60% des Nettoeinkommens) und schließlich über den Bezug des Bürgergelds in der Armut. Ganz so linear verhält sich der Ausstieg aus der Armut dann scheinbar nicht: Der Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit (möglicherweise auch im Niedriglohnsektor) bedeutet nicht umgehend den Eintritt in den Wohlstand. Zwischen Wohlstand und Armut herrscht ein Feld der Armutsbedrohung. Gerade dieses Feld gilt es zielstrebig zu durchqueren um endgültig Abstand von der Armut gewinnen.

      Die vorliegenden Ausführungen zu der dynamischen Bewegung der Armut müssen sicherlich mit Vorsicht genossen werden. Innerhalb der Armutsforschung gab es seit jeher Debatten darüber, inwiefern arme Menschen in Deutschland handlungsfähig sind - dies gilt es sicherlich im Einzelfall zu bewerten. Einige Forscher:innen haben jeweils klare Standpunkte, ob ein Großteil der armen Menschen entweder die Chance haben sich aus eigener Kraft aus der Armut zu befreien bzw. durch restriktive strukturelle Bedingungen und vielfältige Faktoren eben nicht diese Chance haben (statische Armut). Besonders optimistische Standpunkte diesbezüglich kann man mit folgender Lesart begegnen: Es könnte für einige arme Menschen die Chance geben, sich aus der Armut befreien - allerdings ist dies keineswegs ein Imperativ, dies auch tun zu müssen. Ebenso wenig hieße dies, dass die entsprechenden Menschen zwingend an ihrer Situation schuld sind.

      Mit dieser Lesart nähern wir uns den Prämissen die notwendig wären, um eine dynamische Bewegung heraus aus der Armut vollziehen zu können:

      • Die Anerkennung der intragenerationalen Einkommensmobilität eines Menschen. Mit anderen Worten: Armut ist kein vererbter Zustand, welcher lebenslänglich anhält, sondern Armut ist ein Status der in der Karriere eines Menschen episodenhaft eintreten kann und aber dementsprechend auch enden kann. Diesbezüglich gibt es Studien, die vermehrt aufzeigen, dass Menschen weniger lang arm sind als häufig angenommen wird.

      • Die Anerkennung einer Chance. Auch eine arme Person kann handlungsfähig sein und hat in vielen Fällen eine Chance, sich aus der Armut herauszubewegen. Ein Stichwort ist der Teilhabe an Erwerbsarbeit - nicht zuletzt auch durch die Inanspruchnahme von Bildungsangeboten. Das lebenslängliche Lernen (in welcher Art auch immer) bekommt im Zuge der episodenhaften Armut einen nicht zu unterschätzenden Einfluss.

      • Die Identifzierung und Nutzung sozialer Hilfestellungen und Institutionen. Arme Personen greifen aufgrund einer gewissen Ausgrenzung am gesellschaftlichen Zusammenleben nicht auf dieselben Ressorucen zurück wie weitgehend in der Gesellschaft etablierte Schichten. Dementsprechend müssen die Hilfestellungen gefunden und aufgesucht werden.

      • Die Enttabuisierung von Armut jeglicher Art. Dies ist ein gesellschaftliches Thema und gilt für alle Menschen im System. Armut wird nicht selten über externe Faktoren verursacht und es wäre keineswegs so, dass ein Mensch sich diesen Zustand freiwillig aussucht.



    • In dieser Lektion haben wir die globale Sicht (geprägt durch die Armut in Entwicklungsstaaten) auf Deutschland beschränkt. Hier lassen sich globale Parameter, wie die absolute Armutsgrenze (2,15 USD pro Tag) kaum anwenden - Armut in Deutschland sieht anders aus. Sie haben die Begriffe statische und dynamische Armut kennengelernt - diese Sichten sind aber nur Angebote, welche Sie nach eigenem Ermessen übernahmen oder ablehnen dürfen.