Die in
Lektion 3 beschriebenen Handlungsprobleme, vor die uns die dreifache
Reproduktion stellt, müssen für die Verbindung zur sozialen Nachhaltigkeit noch
genauer gefasst werden. Soziale Nachhaltigkeit ist im Zukunftsdiskurs um die
Bewältigung akuter Krisen - wie insbesondere der Klimawandel und seine
Auswirkungen auf Armut, Hunger, Ungleichheit, Flucht u.v.m. - noch wenig
definiert. In dieser Lektion wollen wir uns die Ansätze anschauen, die es zur
Lösung aktuell gibt.
Michael Opielka,
deutscher Sozialwissenschaftler und Hochschullehrer, schlägt vor, zwischen drei
Konzeptionen zu unterscheiden:
Als Soziologe
interessiert Opielka v.a. das weite Verständnis (siehe dritte Konzeption), verspricht er
sich von dieser dritten Konzeption doch nichts Geringeres als die Entstehung eines „Öko-Wohlfahrtsregimes“
(ebd., S. 39). So wie die Rolle der Soziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts
die soziale Frage befeuerte, aus der der Wohlfahrtsstaat erwuchs, könnte ihre
Rolle – so Opielkas Hoffnung – in einem Zukunftsdiskurs um soziale
Nachhaltigkeit sein, die ökosoziale Frage zu befeuern.
Das oben
eingeführte Modell von sozialer Nachhaltigkeit als Gelingen der dreifachen
Reproduktion im Sinne einer zukunftsfähigen und kohärenten Gesellschaft liegt
quer zu Opielkas Angebot.
Das Modell
baut sich wie folgt auf:
Erstens behandelt es Themen der Gerechtigkeit
und Umverteilung im Sinne der bewährten Deutungsmuster.
Zweitens schließen diese Deutungsmuster sozialpolitische
Gestaltungen mit ein.
Drittens wirken diese Deutungsmuster
transformativ, wenn Inkohärenzen das gegenwärtige Arrangement die gültige
Anerkennungsordnung an ihre Grenze kommen lassen.
Freilich kann nicht ein Modell das bestehende Arrangement zu Fall
bringen, sondern es kann nur auf notwendige und mögliche Krisenlösungen
hinweisen. Letztlich sind es zivilgesellschaftliche Arenen, auf denen Bürger:innen
ihre Stimme erheben, Projekte nachhaltiger Lebensformen in Gang setzen und bei
hinreichend politischen Kräfteverhältnissen schließlich neue, konsistente
Bewährungsmythen ebenso wie neue sozialpolitische Rahmenbedingungen anstoßen.
Konkrete
Dimensionen für die soziale Nachhaltigkeit
Konkrete
Dimensionen lassen sich in den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (2022)
finden. Unter den 17 Sustainable Development Goals (SDGs) erscheinen die
folgenden für die soziale Nachhaltigkeit besonders relevant, wie auch Hexel
(2017, S. 89f.) argumentiert.
Wohlergehen statt Wertschöpfung
Im neusten
Bericht an den Club of Rome „Earth for
all“ (2022) schlagen die Autor*innen den Indikator Wohlergehen als
Alternative und Ergänzung zum bisher meist verwendeten Fortschrittsindikator Wertschöpfung vor, die sich rein
ökonomisch bemisst.
In der
volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wird in Deutschland das
Bruttoinlandsprodukt (BIP) zugrunde gelegt, das die Produktionen eines
Kalenderjahres in Marktpreisen zusammenfasst. Die Kritik daran ist schon alt
und entzündet sich vornehmlich an der Unstimmigkeit der bemessenen Leistungen.
Beispiel: Kritik am BIP
Zum Beispiel
geht Umweltzerstörung positiv in die Bruttoinlandsprodukt-Bilanz ein, wenn etwa
Kosten entstehen zur Wiederherstellung vergifteter Böden oder durch Klimawandel
erodierter Berghänge.
Auch der so genannte Postwachstumsdiskurs (vgl. zur Einführung Schmelzer/Vetter 2019) übt Kritik am Wirtschaftswachstum als modernes Leitmotiv für Fortschritt und Wohlstand und bemängelt, dass dieses die Zerstörung ökologischer und sozialer Grundlagen ebenso wie die zugrundeliegenden globalen Ausbeutungsverhältnisse ausblendet.
Was heißt nun aber „Wohlergehen“?
Unter Wohlergehen versteht
der Bericht „Earth for all“ (2022, S. 48ff.) eine Reihe von Qualitätskriterien, die ein zufriedenes Leben
ausmachen. Darin steckt der Grundgedanke der Suffizienz, der neben Konsistenz
und Effizienz als dritte Nachhaltigkeitsstrategie in der Debatte behandelt wird
(vgl. Opielka 2016, S. 35).
Wichtig
Konsistenz – Effizienz – Suffizienz
Konsistenz: fokussiert die ökologische Angemessenheit des Handelns.
Effizienz: bezieht sich
auf ökonomische Entscheidungsmuster.
Suffizienz: adressiert
die sozialen Aspekte des Dreisäulenmodells der ökologischen, ökonomischen und
sozialen Nachhaltigkeit.
An den
gewählten Kriterien lassen sich die Schwierigkeiten erahnen, die sich bei der
Aufgabe stellen, soziale Nachhaltigkeit operationalisierbar und konkret messbar
zu machen.
Wo wird es schwierig?
Als diskussionswürdig dürfen z.B. die folgenden Aspekte betrachtet werden:
Die Operationalisierung von Teilhabe allein über Erwerbsbeteiligung. (Diesen Aspekt wollen wir darum in den folgenden Lektionen weiter aufgreifen.)
Auch im internationalen Vergleich sind diese Standards interpretationswürdig. So hat zum Beispiel der Temperaturanstieg in ohnehin von Dürre heimgesuchten Regionen verheerendere Folgen als in Regionen mit gemäßigterem Klima.
Die globalen Wechselwirkungen zwischen den reichen, den Weltmarkt beherrschenden Ländern mit ihrem Überkonsum und den abhängigen Ökonomien des globalen Südens werfen Schwierigkeiten auf, sie in einem quantifizierenden Maßstab sozialer Nachhaltigkeit abzubilden.
Kehren wir stattdessen zurück zum Modell der dreifachen Reproduktion: Versuchen wir, aus den skizzierten
Merkmalen, Dimensionen und Zielen einen Maßstab für das Gelingen oder Scheitern
von Kohärenz in einer auf soziale Nachhaltigkeit und Wohlergehen des Einzelnen
zielenden Gesellschaft zu entdecken. Dazu richten wir in der folgenden Lektion
den Fokus auf sozialpolitische Rahmenbedingungen als zentrales Politikfeld
sozialer Nachhaltigkeit und schränken dadurch die Perspektive auf den
Nationalstaat ein.
Club of Rome (Hrsg.) (2022): Earth for
All. Ein Survivalguide für unseren Planeten. Der neue Bericht an den
Club of Rome, 50 Jahre nach »Die Grenzen des Wachstums«. München: oekom.
Der Paritätische Gesamtverband (Hg.) (2023): Zwischen Pandemie und
Inflation. Paritätischer Armutsbericht 2022. www.der-paritaetische.de/armutsbericht (zuletzt 7.8.2023)
Hexel, Dietmar (2017): Eine soziale Perspektive auf die
Nachhaltigkeitsstrategie. In: Michelsen, Gerd (Hrsg.): Die Deutsche
Nachhaltigkeitsstrategie. Wegweiser für eine Politik der Nachhaltigkeit.
Hessische Landeszentrale für politische Bildung. Wiesbaden, S. 83-106.
Opielka, Michael (2016): Soziale Nachhaltigkeit aus soziologischer
Sicht. In Soziologie, Heft 1/20016, S. 33-46.
Schmelzer, Matthias/Vetter, Andrea (2019): Degrowth/Postwachstum –
zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag.